Das waren noch Zeiten!
Meine erste Stelle als Lehrerin
Nach Ostern trat ich 1966 meine erste Stelle als Lehrerin in Stein an. Nur mit einem Liegestuhl ausgerüstet, machte ich mich auf den Weg zum Schulhaus Langenegg. Auf der Strasse dorthin kam ich an einem seltsamen Schauspiel vorbei. Hinter einen Hagpfahl kauerten zwei kleine Mädchen und ihr noch kleinerer Bruder und flüsterten aufgeregt miteinander: „Ist das wohl das Fräulein Brunner?“ Sie glaubten sich unhör- und unsichtbar. Es war mein erster Kontakt mit Steiner Schulkindern. Dieses Bild werde ich nie vergessen.
Dann zog ich das grosse Schulhaus mit seinem typischen Geruch nach Finken und Schweiss ein. Platz war für mich allein da mehr als genug, nur im Schulzimmer selber haperte es damit ziemlich.
In den Sechzigerjahren wurden Lehrkräfte regelrecht umworben, auch Stein pries sich in einem netten Brief an, noch bevor ich mein Lehrerpatent im Sack hatte.
Am ersten Tag trudelten 37 Schülerinnen und Schüler ein, neugierig, etwas ängstlich die einen, eher forsch oder nicht besonders interessiert die andern. Das war aber erst der Anfang. Am Mittag hiess es, nun zum Schulhaus Berg hinunterzuwandern, dort weitere 26 ABC-Schützen in Empfang zu nehmen und auch hier den Auftrag ernst zu nehmen. Dieser hiess damals genau gleich wie heute: den Kindern Lesen, Rechnen und Schreiben beibringen. Am Vormittag war ich nun in der Langenegg mit der grossen Kinderschar alleine für einen guten, geordneten Schulbetrieb verantwortlich, am Nachmittag im Berg. Und dies ohne einen freien Nachmittag am Mittwoch, dafür mit freiem Samstag.
Pausenaufsicht? Niemand ausser mir konnte diese wahrnehmen. Pausenglocke? Die Uhr musste ich selber im Auge behalten! Kopierapparat? Den gab es damals noch nicht, sondern man musste Matrizen gestalten, alles von Hand, dann diese in eine Umdruckmaschine einspannen – was oft zu Faltenbildungen führte – und das Gerät mit einem nach Bananen schmeckenden Flüssigmittel füllen. Dann galt es, ein Papier einzulegen, mit einer Kurbel die aufgespannte Matrize herumzudrehen und auf das Resultat zu warten. Der Apparat stand aber im Dorfschulhaus, da hiess es gut vorausdenken.
Papier wurde sorgfältig eingesetzt, die Hauptsache wurde auf Schiefertafeln mit kratzendem Griffel geschrieben. In den Heften gab es keine riesigen Abstände, der Platz wurde intensiv ausgenutzt. Die Wandtafel war winzig, Abstellflächen gab es kaum, dafür ein Klavier im Schulzimmer.
Ich erinnere mich, dass ein Mädchen vom Schachen her einmal ziemlich zu spät kam. Auf meine Frage, was denn passiert sei, kam die Antwort: „Es hatte überall Regenwürmer, und vor denen habe ich Angst, da musste ich immer ausweichen!“ Das erklärte mir auch den Zickzackweg, den ich bei ihrem Näherkommen beobachtet hatte. Ein anderes Mädchen weinte eine ganze Woche lang jeden Tag, weil es so Heimweh hatte. Kindergartenobligatorium war damals noch ein Fremdwort. Müsterchen über Bubenstreiche würden gar ein ganzes Buch füllen…
Auf dem Weg zum Schulhaus Berg „sammelte“ ich immer viele Kinder. Ganz besonders gut erinnere ich mich an einen Buben, der mich immer an der Hand nahm. Kaum kam aber ein grösserer Schüler in Sicht, liess er mich los und rannte voraus. Das wäre doch äusserst unmännlich gewesen, die Lehrerin zu führen. Man war immerhin schon ein Drittklässler!
Eine Zentralheizung war in den beiden Schulhäusern noch gänzlich unbekannt. An einem kalten Morgen musste ich den Ölofen anwerfen, was oft mit einem grossen körperlichen Einsatz verbunden war, musste ich doch mit dem Kopf tief hineintauchen, den Docht anzuzünden versuchen – und mich dann möglicherweise mit schwarzem Kopf wieder herauswinden. Manchmal stank es dann einfach nur, wurde aber dennoch nicht warm.
Das mit dem Lohn war auch so eine Sache. Während die Herren Kollegen im Dorf Fr. 1’000.00 als Monatslohn erhielten, blieb für mich gerade mal Fr.900.00 übrig, obwohl ich die einzige Lehrkraft mit so vielen Schülerinnen und Schülern war und erst noch im Mehrklassenverband zu unterrichten hatte. Aber halt eben: nur eine Frau! Zum Glück änderte das an der nächsten Stelle dann! Darüber muss sich der heutige Appenzeller „Bildungsminister“ Alfred Stricker zum Glück nicht mehr den Kopf zerbrechen…
Weil die beiden Schulhäuser doch recht weit auseinanderlagen, brauchte es natürlich auch sehr viel Schuhwerk, um Tag für Tag in den Berg hinunter zu gelangen. Lustig fand ich immer, dass es ausgerechnet unten „Berg“ hiess! Für die vielen zertretenen Schuhe gab es eine jährliche Schuhzulage von Fr.600.00. Das gibt heute immer ein grosses Gelächter, wenn ich jungen Kolleginnen, die oft mit dem Auto von auswärts zur Arbeit kommen, davon erzähle. „Schule wie zu Gotthelfs Zeiten?“ fragen ihre verwunderten Gesichter.
Damals wusste man noch nichts von Legasthenie, ich jedenfalls hatte davon keine Ahnung. So meinte man einfach, ein Kind, das viele Fehler schreibe, sei dumm. Diese Ansicht hat sich glücklicherweise gelegt, heute gibt es dazu gesicherte Studien und hilfreiche Unterstützungsangebote. Ich habe selber eine Ausbildung in dieser Richtung gemacht und habe fst 30 Jahre Kinder mit Lese-Rechtschreibe-Schwäche (LRS; Dyslexie, Legasthenie) unterstützt. So bin ich dem Lehrerberuf fast meine ganze Lebenszeit treu geblieben, mit einer kürzeren Unterbrechung, als meine drei Söhne klein waren. Unterdessen habe ich zu meiner grossen Freude bereits Bücherwürmer unter meinen Enkelkindern…
In Stein war ich auch im Turnverein. Daran erinnere ich mich besonders gerne. Beim gemeinsame „Einkehren“ nach getaner Arbeit, vielfach auch mit den jungen Turnern zusammen, wurde noch stundenlang gesungen und „gezauret“. Diese Stunden sind mir unvergesslich. Ich liebe die Appenzellerlieder seit meiner Kindheit. Nicht umsonst habe ich später die Chorleiterausbildung gemacht und während 23 Jahren einen Männerchor geleitet. Den Kirchenchor dirigierte ich während 26 Jahren, und das fast immer mit grosser Freude. Ende 2009 ging diese musikalische Ära zu Ende. Den Männerchor hatte ich bereits 2007 abgegeben.