Berührende Stimmen aus dem Osten

Berührende Stimmen aus dem Osten

13. Juni 2024 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Am 9. Juni 2024 begann das ukrainische Orpheus-Oktett seine Schweizer-Tournee mit einem Auftritt im Gottesdienst in Nesslau. Am gleichen Tag traten sie um 17:00 in der akustisch hervorragend geeigneten Grubenmannkirche in Oberuzwil auf. An jedem der verschiedenen Auftrittsorte wird das Programm durch einheimische Chöre bereichert. Die Kirchgemeinden stellen ihre Räumlichkeiten kostenlos zur Verfügung, die Kollekte wird zugunsten der Künstler sowie spezieller Projekte in ihrem Heimatland erhoben. In Oberuzwil hatte sich der von Pianistin und Chorleiterin Oxana Peter-Fedjura gegründete Pianoxa-Chor auf dieses ganz besondere Konzert vorbereitet. Die Musikerin ist selbst in der Ukraine aufgewachsen, aber schon viele Jahre in der Region Uzwil-Wil tätig. Sie begleitete den Chor wie immer ruhig und souverän am E-Piano und dirigierte auch von dort aus. In der Kirche sass auch Margrit Mettler-Roth aus Nesslau, die Gesamtkoordinatorin der ganzen Tournee.

Nur ein Septett?

Wer zu Beginn des Auftritts des Ensembles die Männer kurz nachzählte, kam jedoch nur auf sieben Personen. Sollten zu einem «Oktett» aber nicht acht Personen gehören? Margrit Mettler klärte auf. Wegen der politischen Lage in der Ukraine brauchen Künstler, gerade auch Männer, im Augenblick vom Staat eine Ausreisebewilligung. Nun habe es bei einem der Männer bei der Kontrolle seiner Papiere eine Verzögerung gegeben. Das Ensemble hoffe jedoch, dass der Kollege bald nachkommen könne.

Auftakt mit Pianoxa-Chor

Den Auftakt des Konzerts machte der Pianoxa-Chor mit zwei Liedern von Johann Strauss Sohn. Als erstes durfte das grosse Publikum die Polka Der Vergnügungszug geniessen. Chormitglied Marianne Pessina-Etter führte als Moderatorin durch diesen Programmteil. Von ihr erfuhr man, dass in diesem Stück eine Zugfahrt besungen werde. Doch scheint so ein Vorhaben gar nicht so leicht durchführbar zu sein. Wohin soll man fahren? Und wie muss die Reise geplant sein, damit alle Freude daran haben? Da wird eifrig diskutiert, doch jeder neue Vorschlag wieder und wieder verworfen, bis – ja, bis der Zug ohne die Reisewilligen abfährt. Marianne Pessina meinte dazu sinngemäss: «Kennen wir das nicht auch aus der Politik? Diskutieren, bis der Zug abgefahren ist?»

Im Lied «Brüderlein und Schwesterlein» aus der Operette «Die Fledermaus» zeigte der Chor, wie gut er eine richtige Partystimmung erzeugen kann. Verbrüderung hier, Verbrüderung dort – dank Alkohol und manchem Kuss ganz leicht zu bewerkstelligen. Schade, kann das im politischen Handeln nicht gleich leicht gelingen. Oxana Peter hat mit dem Chor viel Stimmbildung betrieben. Das machte sich in einem ausgeglichenen Chorklang bemerkbar, wenn auch die drei Männerstimmen einen schweren Stand gegen ihre 15 Mitsängerinnen hatten. Nicht umsonst ruft die Chorleiterin auf ihrer Homepage Männer auf, doch auch in diesem speziellen Chor mitzusingen.

Liturgische Gesänge

Die Orpheus-Sänger hatten bis dahin ganz still hinten im Kirchenraum auf ihren Auftritt gewartet. Mit einem besinnlichen Lied betraten sie nun den unterdessen leergewordenen Chorraum. Mit grossem Applaus wurden sie willkommen geheissen. Margrit Mettler versprach wunderbare Musik und rief in den Kirchenraum: «Lassen Sie sich von dieser herrlichen Musik berühren!»

Es verblüfft immer wieder, wie sehr Musik, ganz besonders aber auch ein Lied selbst dann berühren kann, wenn kein einziges Wort verstanden wird. Die Stimmung allein weckt Gefühle, die viele Menschen umtreiben. Die Sänger flehten, beteten und dankten, und dies alles mit einem Stimmenumfang, der die Kirche fast zum Beben brachte. Hie und da war man beinahe an den Fall der Mauern von Jericho erinnert, wenn alle Sieben ihren vollen Tonumfang ausspielten. Doch auch ganz feine Töne, unerwartete Harmonien und andächtige Momente beherrscht das Ensemble. Dabei gab es auch immer wieder solistische Einsätze.

Dazu ein Müsterli

Die Sänger sind alle professionelle Musiker. Die einzelnen Lieder wurden von unterschiedlichen Männern – und zwar je nach Sänger in unterschiedlichen Sprachen – vorgestellt. «Ave-Maria» wurde als Hoffnungslied für die Ukraine angekündigt, verbunden mit der Bitte: «Bitte, betet für uns!» Auch die Legende um eine Marienerscheinung in einem von Krieg bedrohten Kloster wurde auf berührende Weise singend erzählt, mit einem Mienenspiel, das eindrücklich das Gesungene unterstrich. Dieser Liederblock war eine Art musikalischer Gottesdienst mit einem hoffnungsvollen Blick auf ersehnte Rettung aus Krieg und Not. Es war gar nicht einfach, beim Zuhören nicht in Tränen auszubrechen.

Weltumspannende Liedthemen

Interessanterweise handeln die Lieder eines Landes auf der ganzen Welt von ziemlich den gleichen Themen. Unerfüllte Liebe, Trinklieder, überquellende Liebesgefühle, aber auch die Schönheit der eigenen Heimat werden überall besungen. Wer aus seinem Heimatland vertrieben wird, leidet meist sein ganzes Leben lang an Heimweh. Da helfen Lieder wie Kalina, ein Stück, das in der Ukraine alle kennen. Darin wird Hoffnung für das Heimatland besungen, bekräftigt jeweils mit einem zünftigen «Und wir werden unsere glorreiche Ukraine aufheitern, hey hey!» Der hier besungene Schneeballstrauch ist sozusagen die «Landespflanze». Die Farben Rot, Weiss und Grün symbolisieren das verflossene Blut, die Reinheit und nicht zuletzt die Hoffnung auf Besserung. Das Lied mit seinem Marschtakt strahlt viel Vitalität und Zuversicht aus. Die Männer legten ihre ganze Seele in dieses Lied.

Ein Karpatenmedley – die Gegend wurde in der Ansage mit der Voralpenlandschaft Toggenburg-Appenzellerland verglichen – liess die schönen Stimmen erneut in allen Facetten durch den Kirchenraum schwingen. Immer wieder blitzte auch ein Anflug von Humor auf. Da liegt ein Kosak verwundet auf dem Boden. Doch ein junges Mädchen legt ihm die Hand auf sein Herz – gerettet! Dieses Lied hatte Hitpotenzial, hätte auch schon nach kurzem Üben mitgesungen werden können. Aber auch über unglückliche Liebe wurde sinniert, gesungen, gefleht – am Schluss gar der Frust darüber herausgeschrien. Jedes Lied wurde mit stürmischem Applaus verdankt. Gerne hätte man diese erst noch etwas nachklingen lassen wollen, aber die Begeisterung war einfach zu gross.

Gemeinsamer Abschluss

Am Ende des Konzerts vereinigten sich die beiden Chöre zu einer mitreissenden Darbietung des Trinklieds «Libiamo ne‘ lieti calici», auch als «Brindisi» bekannt, aus Giuseppe Verdis Oper «La Traviata». Gemeinsam geprobt hatten sie das Lied erst kurz vor Konzertbeginn, die Noten waren allerdings ein paar Tage vorher an das Orpheus-Ensemble gegangen. Schloss man die Augen beim Zuhören, wähnte man sich fast in der Mailänder Scala. Der Applaus wollte denn auch kaum enden. Darum wurde das gleiche Lied nochmals als Zugabe dargeboten. Am Schluss dankte Marianne Pessina allen Beteiligten, nicht zuletzt den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern, aber auch den Sängern, dem Pianoxa-Chor und besonders Chorleiterin und Pianistin Oxana Peter sowie Margrit Mettler, deren organisatorische Arbeit ein solch hochstehendes Konzert überhaupt erst möglich machte.

Beim Hinausgehen standen Frauen mit Körbchen an der Kirchentüre. Fleissig wurden Nötli eingelegt für die Kollekte zugunsten der Sänger. Es kam ein schöner Betrag von gegen dreitausend Franken zusammen.

Auf dem Programm-Blatt sind alle weiteren Tournee-Daten aufgelistet. An jedem Ort gestaltet ein einheimischer Chor das Programm mit. Es wird jedes Mal ein anderes Miteinander sein. Musik verbindet Menschen, woher sie auch kommen und wohin ihr weiterer Weg sie auch führt.

Dazu ein Bericht zu einem früheren Konzert des Pianoxa-Chors – zusammen mit einer ukrainischen Sopranistin. Benefiz-Konzert für die Ukraine