Geschichten von Stille, Frieden, Aufmüpfigkeit und Migration

Geschichten von Stille, Frieden, Aufmüpfigkeit und Migration

5. Oktober 2024 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Sichtlich überwältigt begrüsste Stiftungsratspräsident Fredy Willi die Fans von guter Musik in der vollen Alten Gerbi in Oberuzwil. 139 von 140 Stühlen waren besetzt, der letzte fand in letzter Sekunde ebenfalls noch einen Besitzer. Man spürte ganz viel Vorfreude im kürzlich freundlich aufgefrischten Kulturlokal. Grund dafür: Der seit vielen Jahren als Liedermacher und Autor auf Tour auftretende italienische Sänger Pippo Pollina kam auf Einladung der Gerbi-Stiftung nach Oberuzwil. Leider mussten viele Interessierte abgewimmelt werden, weil schlicht der Platz für sie fehlte. Da war dem Stiftungsrat ein richtiger Coup gelungen!

Soloprogramm mit «Nell‘attimo – Im Augenblick»

Auch wenn Pippo Pollina ganz allein mit seinem aktuellen Programm «Nell‘attimo – Im Augenblick» auf der Bühne stand und mit grosser Intensität – sich selbst am E-Piano oder einer Gitarre begleitend – seine eigenen Lieder sang, so gab es doch auch Intermezzi mit anderen bekannten Musikern. Immer wieder waren nämlich auf der Leinwand im hinteren Teil der Bühne Filmausschnitte aus Konzerten mit ihm zu entdecken, in denen auch andere bekannte Künstler – die männliche Form ist hier völlig richtig – oder Ensembles mitwirkten. Und oft sang er mit diesen quasi mit, wobei die Präzision des Zusammenspiels verblüffte, kommt es doch bei Fernsehübertragungen manchmal vor, dass sogar bei Live-Auftritten die Mundbewegungen nicht genau mit dem Gehörten übereinstimmen.

Grosser Erzähler

Ja, der Mann hat viel zu erzählen. Ein armer Junge aus Palermo, dessen Vorfahren auswandern mussten und der das Heimweh der Emigrierten hautnah mitbekam. Er beschrieb die politische Situation im tiefsten Süden Italiens, in welchem die Kommunisten vielfach das Sagen hatten. Da kam einem unweigerlich das Duo Don Camillo und Peppone des Autors Giovannino Guareschi in den Sinn. Pollina sang dazu immer wieder Lieder mit Tiefgang, Texte, die auch dann berühren, wenn man kein Italienisch versteht. Oft konnte man allerdings auch einen Teil der musikalischen Botschaft auf der Leinwand nachlesen. Viele Texte beklagen den Zustand der Welt, rütteln auf, sind gesellschaftskritisch, ja philosophisch. Pollina ist überzeugt, dass künstlerisch tätige Menschen Vorreiter einer Utopie sind, welche eine Welt zeigt, in der ein friedliches Miteinander möglich ist. Das Publikum liess sich von dieser Ernsthaftigkeit anstecken, war mucksmäuschenstill und spendete nur dann Applaus, wenn dies angebracht war.

Erste musikalische Schritte

Mit 15 bekam Pollina seine erste Gitarre – eigentlich spät, wie er anfügte – , aber schon mit sechs Jahren habe er mit gleichaltrigen Freunden eine eigene Band gegründet, wie er mit ernsthafter Miene, doch kleinem Lächeln auf den Stockzähnen erzählte. 1985 – 1991 war er als Strassenmusiker auf Weltreise unterwegs, wobei es ihm Lateinamerika besonders angetan hatte. Ohne Plan liess er sich da treiben, lernte viele Menschen kennen. Manchmal wäre das auch gefährlich gewesen, aber einen jungen Mann aus Palermo könne das nicht abschrecken, wie er mit verschmitzter Miene meinte. Irgendwann kam er in die Schweiz, lernte da den damaligen Theologiestudenten Linard Bardill kennen… Bestimmt erinnern sich manche an den Auftritt des damaligen Duos im «Leierchaschte» in Bichwil – unvergesslich für alle, die dabei waren. Mehr von den beiden Musikern findet man hier.

Blick zurück

Ein grosses Gelächter gab es, als auf einer Filmsequenz die beiden Freunde zu sehen waren, in jugendlicher Frische, Bardill mit einer fast überbordenden Mähne, während Pollina bis heute die gleiche Frisur trägt. Interessant, wie sich doch die Mode während Jahrzehnten stark verändert, um plötzlich wieder in «alte Fahrwasser» zu fallen, was beispielsweise die Bartmode heutiger junger Männer beweist. War dies nicht auch schon vor x Jahren Mode?

Auch Konstantin Wecker hatte seinen Auftritt in einer Filmsequenz, obwohl Pollina anfänglich gar nicht erpicht war, diesen «Deutschen» kennenzulernen. Denn dieser hatte den «Fehler» gemacht, Pollina, dem Uritaliener, eben dieses Italien zu erklären. Doch auch da gab es tolle Auftritte, so bereits 1993 oder beispielsweise am 1. Juni 2017 im Circus Krone. Wortreich beschrieb Pollina, wie Wecker an seinen Konzerten ganze Bäche geschwitzt habe…

Musikalische Vorbilder

Musikalische Vorbilder waren zudem der belgische Chansonier Jacques Brel oder der sprachgewandte Grieche George Moustaki, welcher laut Pollina neun Sprachen beherrschte. Auch der exzentrische Italo-Amerikaner Frank Zappa beeinflusste Pollinas musikalisches Schaffen.

Mit den Brüdern –Juristen und Komponisten- Paolo und Giorgio Conte verbindet ihn eine grosse Freundschaft. Vor allem Giorgio steht ihm sehr nahe. In Oberuzwil sang er das Duett mare mare mare zusammen mit dem Mann auf der Leinwand. Seit 2011 tourt er auch mit dem aus Bari stammenden Klarinettenvirtuosen Roberto Petroli, oft auch erweitert bis zu einem Quintett, durch Europa.

1973 putschte das Militär gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Alliende. Viele Chilenen flüchteten damals nach Italien, welches sich mit dem Land solidarisierte. Das Album «il giorno del falco» enthält ein Lied zu diesem tragischen Vorgang.

Das Publikum war vom Gehörten berührt und begeistert, was es in einer Standig Ovation zum Ausdruck brachte. Als Dank kam die Zugabe «volare» – der Refrain vom Publikum lauthals mitgesungen, wobei sich der Sänger einen kleinen Seitenhieb auf den Schmusesänger Eros Ramazotti nicht verkneifen konnte. Er habe mal im Frauengefängnis Hindelbank mit dort eingesperrten Frauen ein italienisches Lied singen wollen, aber «hoffentlich keines von Ramazotti!», wie diese meinten…

Dichtes Tournee-Programm

Pollina hat eine grosse Herbst-Tournee aufgegleist. Bis zum 15. November 2024 tritt er fast jeden Tag mit dem in Oberuzwil gehörten Programm «Nell‘attimo – Im Augenblick» in Deutschland, Österreich, aber immer auch wieder in kleineren und grösseren Sälen der Schweiz auf. Diesmal steht er allein auf der Bühne, was ihm laut eigener Aussage viel mehr Freiheit zur Improvisation gibt. Grosse Lebensfragen wie «Gibt es einen Platz für alle auf dieser Welt?» oder «Frieden für alle» treiben den Mann um. Seine Sprache ist wohlüberlegt, ja erhaben. Am 25. Mai 2025 tritt er – nicht zum ersten Mal – mit dem Schweizer Jugendorchester SJSO auf, diesmal im akustisch hervorragenden KKL-Luzern.