«Nils Holgerssons wundersame Reise»  als Oper…

«Nils Holgerssons wundersame Reise»  als Oper…

3. Februar 2022 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Noch ist es nicht so weit! Noch kann die Oper über die Reise von Nils Holgersson aus der tiefsinnigen Erzählung von Literatur-Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf nicht am königlichen Hof in Schweden genossen werden. Dazu fehlt noch einiges. Und doch gibt es den klaren Plan, dies eines Tages möglich zu machen, nämlich eine Erzählung in Tönen über die Reise mit den Gänsen, bis hinauf nach Lappland. Sich vorgenommen hat dies Bernhard Sieber aus Oberuzwil.

An diesem Tisch wird gearbeitet – mit den Flaggen der Schweiz und Schwedens, dazu ein Bild seiner verstorbenen, sehr geliebten Frau Eva.

Bernhard Sieber

Wer ist die Person, die einen solchen Traum hegt und hartnäckig verfolgt? Bernhard Sieber kam am 16. März 1941 in Fluntern ZH zur Welt, auf den Tag genau ein Jahr nach Selma Lagerlöfs Tod. Der Mann hat zeit seines Lebens immer mit Musik zu tun gehabt. Die klassische Musik hat es ihm ganz besonders angetan. Seine Mutter war bereits mit zwanzig Jahren Konzertpianistin, der Vater Jurist und Oberrichter. Er selber wirkt noch heute oft als Organist in Gottesdiensten in der Region. Er hat das grosse Glück, das absolute Musikgehör zu haben, ein Geschenk der Natur. Und nun also die Idee, diese nordische und lehrreiche Geschichte in Töne zu übersetzen. Vielleicht schafft es sein Werk ja einmal sogar ins Guinness-Buch der Rekorde, wer weiss?

Mit der Geschichte kam Sieber bereits in der Unterstufe in Kontakt. Seine kurz vor der Pensionierung stehende Lehrerin Fräulein Gertrud Roth las damals das Buch vor, hatte aber keine Ahnung von der Aussprache all der schwedischen Namen. So las sie das als O auszusprechende Å/å immer als ein E. Das fiel dem Mann allerdings erst auf, als er im Hinblick auf sein Opernprojekt begann, diese nordische Sprache zu lernen. Mit Hör-CDs aus dem Langenscheidt-Verlag gelang ihm das so gut, dass er sich in Schweden damit verständigen konnte.

Anstoss durch eine Aussage aus Kirchenkreisen

Bernhard Sieber empfand den in der Erzählung unterschwellig immer vorhandenen christlichen Gedanken von Vergebung und Versöhnung, aber auch von Schuld und Reue als besonders wichtigen Bestandteil der Geschichte. Es interessierte ihn deshalb, was die schwedische Presse anlässlich der Veröffentlichung des Buches zwischen 1906 und 1907 darüber geschrieben hatte. Während sich die Schulbehörden am unterhaltsamen Stil des Buches störten, ja schon etwas mehr Ernsthaftigkeit erwartet hatten, fanden kirchliche Kreise, der christliche Inhalt sei zu mager dargestellt, ja kaum vorhanden. Das ärgerte den Komponisten, sind doch seiner Meinung nach gerade diese Aussagen ganz offensichtlich. Und so keimte in ihm immer mehr der Gedanke auf, der Geschichte ein musikalisches Gesicht in Form einer Oper zu geben. Die Filme – es gibt unterdessen mehrere Fassungen – haben ihn nicht überzeugt, deren Botschaft sei zu sehr verwässert, findet er.

Aufbruch

Es blieb aber nicht nur beim Vorsatz. Bernhard Sieber packte im Sommer 2021 seinen Koffer und den reisetauglichen Rucksack, hatte sich ja sprachlich schon gut vorbereitet, und begann seine Reise per Zug. Natürlich hatte er im Internet die Route gründlich studiert und sich auch Unterkünfte vorreserviert. Sein Ausgangspunkt war Lagerlöfs Heimatstadt Sunne im mittleren Värmland, schön eingebettet zwischen zwei schmalen Seen. Als erstes stieg er im Bed & Breakfest-Haus «Gröna Lena» bis zum Besuch des Lagerlöf-Hauses ab. Für den Besuch auf Mårbacka, Lagerslöfs Geburtshaus, war er allerdings einen Tag zu früh dran, das Haus noch geschlossen. Er brauchte deshalb eine neue Übernachtungsmöglichkeit. Hilfsbereit  organisierte seine bisherige Gastgeberin ein Bett bei einer Kollegin in einem Wandererheim. Von dieser Frau wurde er sogar per Auto abgeholt und am andern Tag nach Mårbacka gebracht. Wie aufmerksam! In Mårbacka konnte er nun unbeschwert in die Selma-Lagerlöf-Welt eintauchen, im Museum sogar Originaltondokumente mit der Stimme der Autorin anhören. Umeå in Schweden: Kulturstadt in wilder Natur

Mårbacka, Selma Lagerslöfs Geburtshaus

Unterbruch

Leider gab es einen unerwünschten Unterbruch der Reise, als der Musiker schon weit im Norden Schwedens, am Bottnischen Meerbusen, in Umeå – genannt die Stadt der Birken – eine gefährliche Blutvergiftung an einem Bein erlitt, vermutlich durch Mückenstiche ausgelöst. Er musste sofort heimfliegen und grad ins Spital. Doch unterdessen ist alles gut verheilt, der Tatendrang wieder da. Momentan sei es allerdings schwierig, in gewissen Regionen Schwedens Zugstrecken zu reservieren. Doch die Unterkünfte sind bereits alle gebucht. Da wird es bestimmt noch viele neue Impulse zu Tonmalereien geben. Umeå in Schweden: Kulturstadt in wilder Natur

Selma Lagerlöf (20.11.1858-16.03.1940)

Die Literatur-Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts von Schwedens Schulbuch-Kommission für das Schaffen eines Geografiebuchs über ihr Mutterland angefragt. Da sie selber zehn Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte, wusste sie genau, worauf es in einem solchen Werk für Kinder ankommt. Dieses muss interessant sein, zur Entspannung aber auch immer wieder lustige Episoden enthalten, darf daneben aber den pädagogischen Auftrag nicht aus den Augen lassen. Das ist Lagerlöf meisterlich gelungen. Selma Lagerlöf

Nicht umsonst liest und erzählt man das Buch auch heute noch gerne und lernt so ganz nebenbei viel über die äusserst vielseitige Natur Schwedens, über dessen Tierwelt und Gebräuche kennen. Natürlich hat sich auch Schweden in den letzten hundert Jahren zu einem modernen Staat entwickelt, aber die Landschaft ist zum grossen Teil doch immer noch die gleiche. Und menschliche Werte wie Verzeihen, die Natur schützen, einen sorgfältigen Umgang mit andern Menschen pflegen, aber auch so ehrlich wie möglich durchs Leben zu gehen haben noch heute Gültigkeit.

Bis heute ein Klassiker

Die Geschichte von Nils Holgersson prägte sich bestimmt auch so tief in die schwedische Seele ein, weil bis ins Jahr 2015 auf dem 20-Kronenschein Selma Lagerlöf und eben Nils Holgersson zu sehen waren. Unterdessen wurden die Sujets von Astrid Lindgren – 14.11.1907-28.01.2002 – und Pippi Langstrumpf abgelöst, auch sie Volksheldinnen – und dies nicht nur in Schweden. Die Namensgebung des kleinen Nils Holgersson ist kein Zufall, wurde 1907 Selma Lagerlöf doch von den Behörden gebeten, einen kleinen Buben namens Nils Holgersson als Pflegekind bei sich aufzunehmen, was sie auch tat. Damals war Lagerlöf schon sehr bekannt als Schriftstellerin. Der Name ihres Pflegesohns bleibt damit untrennbar mit dem Held dieser zauberhaften Geschichte verbunden.

Erzählung in sechs Szenen

Beim Zuhören war Bernhard Siebers Begeisterung für Land und Leute, aber auch für die Geschichte des anfänglich so frechen «Teenagers» Nils Holgersson, der – typisch Pubertierender! – zu faul zum Helfen ist, seine Eltern deshalb oft zur Verzweiflung bringt, aber auch kein Erbarmen mit Tieren kennt, deutlich zu spüren. Als der Bub aber einen Wichtel ärgert, lernt er seinen Meister kennen, wird selber in einen solchen Winzling verzaubert und muss sich von da an vielen Herausforderungen stellen. Gefiederte Freunde tragen ihn nun über all die weite Landschaft bis weit hinauf nach Lappland.

Für den Komponisten Sieber hat die grosse Freundschaft zwischen Nils Holgersson und dem Gänserich Martin eine ganz besondere Tiefe, rettet Nils – nach seiner Heimkehr noch immer ein Wichtel – das Tier doch vor dem Schlachtmesser der Eltern. Diese Tat verhilft ihm darauf augenblicklich wieder zur ursprünglichen Grösse als Mensch, der junge Mann ist nun geläutert.

Instrument passt zu Figur

Beim Komponieren kommt Sieber zugute, dass er seit Kindheit eine grosse Liebe zu Vögeln hat. Er kennt die Welt der Flugkünstler sehr gut. Jedes Tier bekommt in seiner Oper ein ihm gemässes Instrument. Bernhard Sieber lässt sich dabei von der Stimmung im Buch und der Landschaft leiten. Und weil der Fuchs Smirre ständig der zahmen Gans Martin nach dem Leben trachtet, wird das Kinderlied «Fuchs, du hast die Gans gestohlen» irgendwann auch in der Oper zu hören sein. Ein Männerchor wird die der Sage nach untergegangene Stadt Vineta besingen, die nur alle hundert Jahre in der vorpommerschen Ostseeküste auftauchen soll. Sieber hilft beim Komponieren bestimmt auch, dass er als Bub sehr gerne mit dem noch heute beliebten Stokys-Metallbaukasten spielte, denn auch beim Zusammensetzen der einzelnen Tonthemen braucht er einen «Bauplan». Das Programm «Finale» druckt die Noten sehr gut leserlich, doch der Text macht dem Mann noch etwas Sorgen, kann doch nicht unbeschränkt vergrössert werden, ohne dass Textzeilen sich verschachteln.  

Bereits im Jahr 1986 hatte der norwegische Komponist und Jazzmusiker Bjørn Howard Kruse eine Oper für Sänger, gemischten Chor und Kammerorchester komponiert, deren Libretto auf diesem Buch beruht. Doch Bernhard Sieber hat davon noch nie gehört, liess sich selber vor allem vom ethischen Gehalt der Erzählung beeindrucken. Es wäre natürlich wunderbar, wenn dieses Werk, wenn es dann als Oper fertigkomponiert ist, in den Hallen des königlichen Opernhauses – «kungliga operan» – in Stockholm erklingen dürfte. Noch weiss zwar der schwedische König nichts von diesem Vorhaben, aber das kann sich ja noch ändern. Was kann denn einem Land Besseres passieren, als dass seine klassischen Werke immer wieder neu interpretiert werden? Königliche Oper – Opernreiseführer