Stille wagen
Manchmal macht die Technik gerade zum richtigen Zeitpunkt schlapp. So passiert zu Beginn der Erzählnacht in der Bibliothek Uzwil. Hatte das Licht noch bis vor Beginn des Anlasses völlig normal funktioniert, so wurde es plötzlich ohne Vorwarnung stockdunkel im Saal. Und gleich auch mucksmäuschenstill! Auch als das Licht wieder leuchtete, hielt diese Stille bis nach Ende der Lesung an. Alle Stühle waren besetzt, auch mancher Mann hatte den Schritt in die Bibliothek gewagt.
Die hübsche Azalee zog eine unsichtbare, Stille gebietende Grenze zwischen Publikum und den beiden Frauen.
Lesenacht 2024
Jedes Jahr organisiert das « Zentrum Lesen» der Pädagogischen Hochschule FHNW eine schweizweite Lesenacht. Dieses Jahr hiess das Thema «Traumwelten». Im Rahmen dieser Veranstaltung boten zwei Frauen aus Uzwil eine gedankliche Reise durch ganz persönliche Lebenserfahrungen an.
Silvia Spycher-Frehner – links – hat im Lauf der letzten Jahre immer mal wieder kleine Gedankensplitter zu Beobachtungen im Alltag aufgeschrieben. Und ihre Begleiterin Anita Haag-Singenberger hat sich in das Handpan und den Klang von Klangschalen verliebt. Mit diesen unterstrich oder vertiefte sie die Worte der Autorin.
Das Handpan – auch «Hang» genannt
Inspiriert wurde dieses Instrument durch die Steel Pan aus Trinidad und den Tontopf Ghatam aus Südindien. Es sieht aus wie zwei zusammengefügte umgekehrte Schüsseln, hat auf der Oberseite je nach Ausformung verschiedene Einbuchtungen und in der unteren Schüssel ein Mittelloch. Das Instrument wird am Körper gespielt.
Hier können nähere Informationen zu diesem doch eher selten gehörten Instrument nachgelesen werden. In einem interessanten Interview erzählt ein Appenzeller Handpanbauer über die Faszination, die dieses Instrument auf ihn ausübt. Unterdessen ist ein Rechtsstreit um das Urheberrecht an diesem Klangkörper ausgebrochen.
Zur Autorin
Silvia Spycher-Frehner, Jahrgang 1963, ist in Stein AR aufgewachsen. Sie schloss die Kantonsschule Trogen mit der Matura mathematischer Richtung ab – dies mangels Alternativen, da in der Steiner Sekundarstufe kein Latein angeboten worden war – und konnte später ihre Sprachkompetenz im Export namhafter Firmen einsetzen. Zeitweise arbeitete sie auch als Übersetzerin. Irgendwann wollte sie sich jedoch mehr ihren persönlichen Bedürfnissen zuwenden. Sie war bis dahin als berufstätige Mutter zeitlich sehr beansprucht gewesen. Nun zog es sie hin zu mehr Stille.
Kontemplationslehrerin
Seit 2019 ist sie als «Kontemplationslehrerin via integralis» tätig. Aus dem regelmässig praktizierten Sitzen in der Stille wuchsen tiefgreifende Erfahrungen heraus, die sie anfänglich in Wortfetzen auf Zettel schrieb, nur für privaten Gebrauch bestimmt. Oft kamen ihr solche Gedanken dann, wenn sie eigentlich mit anderen Tätigkeiten beschäftigt war, etwa beim Gemüserüsten. Auf Anregung von Menschen aus ihrem Umfeld, welchen sie die Texte zu lesen gab, entstand mithilfe der Lektorin Regina Grünholz in einer längeren Überabeitungs- und Verdichtungszeit ein schmales Buch. Es heisst: «Mich der Stille anvertrauen». Aus diesem las sie einzelne dieser Gedankensplitter vor.
Musikalische Vertiefung
Ihr zu Seite stand Anita Haag-Singenberger, welche auf ihrem Handpan dazu passende Tonfolgen spielte. Ihr Instrument ist auf 432 Hertz gestimmt, etwas tiefer als übliche Instrumente mit 440 Hertz. Auch mit Klangschalen erzeugte sie eine richtig geheimnisvolle Stimmung, die das Gesprochene vertiefte. Es war äusserst spannend, ihren um das Instrument herumtänzelnden Fingern zuzuschauen, welche einmal nur ganz flüchtig darüberstrichen, dann wieder klöpfelnd einen Melodiefetzen erzeugten oder eine Art Lied anstimmten. Und für jedes der kleinen Leseperlen hatte sie eine passende Begleitung parat, einmal eher erdig, dann wieder tänzelnd oder auch fallende Blätter imitierend, was dem ganzen Anlass eine in sich geschlossene Stimmung verlieh.
Alltagserfahrungen, körperbetont vorgetragen
Mit «Der Kaktus» begann die Lesung. Langsam, jedes Wort betonend, breitete die Autorin das Bild dieser stachligen Pflanze vor der Zuhörerschaft aus. Jahrein, jahraus in schmucklosem Zustand, verzaubert sie plötzlich mit ihrer Blütenpracht, die alles Frühere vergessen macht. Oder «Die Libelle», ein kurzer Gedanke, welcher aufzeigt, dass gerade in grösster Eile ein kleines Tier die Welt hell und farbenfroh machen kann. Die Hauptaussage vieler Texte weist darauf hin, wie wichtig es ist, im Jetzt zu leben.
Sie las langsam, jedes Wort betonend und unterstrich das Gesagte mit einprägsamen Gesten. Man spürte genau, dass das tiefgreifende persönliche Erfahrungen waren, die nun dank verdichteter Sprache den Weg zum Aussen fanden. Oft ist von einem DU die Rede. Dieses DU lenkt den Blick auf eine höhere Macht, die alle Religionen einschliessen soll. Es gibt eine Zwiesprache zwischen dem einzelnen Menschen und dem grossen Gegenüber. Dieses DU kann Zweifel, Widerborstigkeit, Versagensängste und Unsicherheiten zu neuen beglückenden und hoffnungsvollen Erfahrungen hinwenden.
Eine eigene Sprachform
Silvia Spycher nennt ihre Gedanken Gedichte. Oft sind es einfach ein paar Worte, die ihre ganz eigene Melodie entwickeln, wenn man sie bewusst ausspricht oder liest. Viele gründen auf Naturbeobachtungen, die man selbst möglicherweise auch schon gemacht, aber nie den gleichen Schluss daraus gezogen hat. Viele der kurzen Texte spielen auch auf Seelenzustände wie Angst, Ärger, Gefühle des Ungenügens an, aber auch auf das Staunen oder die Freude. Es ist dazwischen auch einmal ein Offenlegen von Defiziten, die Bauchweh bereiten.
Jetzt!
Eine wichtige Erkenntnis: «Jetzt tun! Du hast nie mehr Zeit als jetzt, zu tun, was du tun willst.» Das Buch ist kein Roman, den man in einem Zug verschlingt. Es spielt auch keine Rolle, wo man mit dem Lesen anfängt. Auf jeder Seite gibt es einen Gedanken, welchem man danach persönlich nachgehen kann. So heisst es einmal äusserst tröstlich: «Wenig ist so ernst, dass man nicht darüber lachen könnte.» Gut zu wissen, wenn man die im Augenblick nicht gerade hoffnungsvoll stimmende Weltlage anschaut. Ein Buch, das gut auf das Nachttischchen passt…
Abwechslungsreiche Darbietung
Immer wieder lösten sich gesprochene Texte mit Einsätzen des Handpans ab, bis Töne und Gesprochenes auch einmal verschmolzen.
Gegen Schluss erzeugte die musikalische Begleiterin mit zwei Klangschalen ganz berührende Klangmuster. Mit einer Art Reibe umrundete sie die Schalen. Anfänglich hörte man nichts, eine ganze Weile lang. Langsam, leise und verhalten gebar dieses Umschmeicheln sphärenhafte Töne. Hörte das Hervorlocken auf, blieb der Ton noch lange in der Luft hangen – eine ganz spezielle Hörerfahrung.
Die beiden Frauen hatten an diesem Abend gleichsam den Himmel mit der Erde verbunden. Am Schluss traute sich das Publikum nach der grossen Stille fast nicht, diese mit einem profanen Klatschen zu zerstören. Doch schliesslich gab es doch einen – wenn auch etwas verhaltenen – herzlichen Applaus.
Beim von den Bibliotheks-Mitarbeiterinnen vorbereiteten Apéro tauschten sich die Anwesenden danach über das Gehörte aus. Manches wird bestimmt noch nachhallen…
Nächster Anlass in der Bibliothek Uzwil: Mittwoch, 4. Dezember 2024 um 19:00 Uhr
Heilige Streiche – Marcel Huwiler unterhält mit speziellen Adventsgeschichten