Und auf einmal löste sich die Handbremse…

Und auf einmal löste sich die Handbremse…

10. März 2020 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Vorstellung des neuen Buches HINTER DEM LADENTISCH der Rheintaler Autorin Jolanda Spirig.

Ein passenderes Datum als den diesjährigen Tag der Frau hätte es für Jolanda Spirigs Buchvernissage kaum geben können. Zum Glück musste der Anlass trotz des zwar unsichtbaren, aber dennoch die Schlagzeilen bestimmenden Corona-Virus nicht abgesagt werden. Gegen 120  Personen liessen es sich denn auch nicht nehmen, Spirigs neuestes „Baby“ zu begrüssen. CHRONOS-Verlagsleiter Hans-Rudolf Wiedmer und Monika Bucheli sassen als besondere Gäste in der ersten Reihe. Jolanda Spirig im Chronos-Verlag

In ihrem neuesten Buch hat Jolanda Spirig, mehrfache Buchautorin, das Leben der heute bald achtzig Jahre alten, vielseitig begabten und in den unterschiedlichsten Lebensbereichen erfahrenen Martha Béery-Artho näher beleuchtet. Begegnet ist ihr die zurückhaltende Frau bei besonderen Frauenveranstaltungen immer mal wieder, aber erst vor drei Jahren gab es einen engeren Kontakt. In Altstätten sollte damals eine Sonderausstellung über die Hochblüte der Stickereizeit organisiert werden. Jolanda Spirig hatte genau zu diesem Thema mit STICKEN UND BETEN ein ebenfalls beeindruckendes Buch geschrieben. Da lag es auf der Hand, dieses Buch bei der Ausstellungsplanung zu Rate zu ziehen. STICKEN UND BETEN

Unter diesem Link kann eine Sendung von SRF 2 zum ebenfalls von Jolanda Spirig verfassten Buch DIE SCHÜRZENNÄHERINNEN nachgehört werden. Kontextsendung zum Buch Schürzennäherinnen  

Und so kam es vor gut drei Jahren zu einer persönlichen Annäherung, die nun im neuen Buch HINTER DEM LADENTISCH nachgelesen werden kann. In unzähligen Stunden hat Spirig recherchiert, durfte sogar das „Teenager-Tagebuch“ der Frau lesen und konnte so ein lebendiges Porträt gestalten. Das Buch liest sich leicht, man erfährt nicht nur Details aus dem familiären Umfeld, sondern bekommt auch Einblicke in die politische Situation der damaligen Zeit. Jolanda Spirig las etliche Stellen aus ihrem Buch vor und machte damit Lust auf dessen Lektüre.

Prominente Laudatorin

Die Historikerin Heidi Witzig trifft man an vielen Orten, an denen Frauen „Geschichte“ schreiben. Heidi Witzig auf ostschweizerinnen.ch

Und da dies auch auf Autorin Jolanda Spirig zutrifft, sind sie und Heidi Witzig sich auch immer mal wieder über den Weg gelaufen. Das war schon bei der FrauenVernetzungsWerkstatt so, bei welcher Jolanda Spirig die Medienarbeit innehatte und Heidi Witzig manches Referat hielt. Die Historikerin zündete denn auch zu Beginn des Anlasses im Literaturzimmer in der St.Galler Hauptpost ein richtiges Feuerwerk und stellte die Buchautorin mit witzigen – ihrem persönlichen Namen alle Ehre machend! – kleinen Anekdoten vor.

Heidi Witzig stellte aber auch die Geschichte der Familie Artho in einen historischen Zusammenhang. Mitten im Krieg hatten die Eltern von Martha Béery-Artho geheiratet. Die Frau machte einen [i]Kolonialwarenladen auf, im kleinsten Zimmer der Dreizimmerwohnung. Die Vorräte mussten in der ganzen Wohnung und im Keller verstaut werden, jedes noch so kleine „vorige“ Plätzlein war mit Kolonialwaren verstellt. Jeder Rappen musste zusammengehalten werden. Zum Glück war die Mutter tüchtig, fleissig und klug. Der Vater seinerseits war ein liebevoller Mann – fast könnte man ihn als Feministen bezeichnen. In den Vierzigerjahren war ein Mann, der zuhause das Frühstück vorbereitete, vor der eigenen Arbeit als Gärtner und Chauffeur eines päpstlichen Nuntius‘ noch für die Frau die schweren Arbeiten im Kolonialwarenladen erledigte und seinen Töchtern ein aufmerksamer Begleiter war, bestimmt ein ziemlich rares „Exemplar“.

Der frühe Tod des Vaters war ein Schlag für die ganze Familie, besonders aber auch für die 14-jährige Martha, die ihren Vater über alles geliebt hatte. Die Mutter legte sich danach noch mehr ins Zeug, Martha und ihre jüngeren Schwestern Beatrice und Elisabeth mussten ebenfalls streng Hand anlegen, auch eine Schwester der Mutter samt deren Kinder waren im „Handelsbetrieb“ eingespannt. Das Aufkommen der MIGROS und ihres Selbstbedienungskonzepts machte der Ladenfrau später das Leben schwer. 

Heidi Witzig ist mit Martha Béery ebenfalls sehr gut bekannt, wirkt sie doch in der von Martha Béery gegründeten – und präsidierten – „IG Frau und Museum“ im Vorstand mit. Die Historikerin gestand, dass sie durch die Lektüre des so genau recherchierten und in elegantem Stil verfassten Buches nun vieles noch besser verstehe. Die beschriebene Frau – eben Martha Béery-Artho – halte im Vorstand die Fäden, wenn auch eher unsichtbar, sicher und fest in Händen und bleibe hartnäckig an einem Thema dran. Es liege ihr viel daran, dass Frauen sichtbar gemacht und ihre Lebensgeschichten unverfälscht dargestellt würden. Interessengemeinschaft Frau und Museum

Rolle des katholischen Klerus

Einen grossen Stellenwert im Buch nimmt nebst dem „Familienunternehmen Kolonialwaren-Handlung“ die Macht der damaligen katholischen Kirche ein. Vater Artho Angestellter der päpstlichen Nuntiatur, sollte immer zur Verfügung stehen. Mutter trägt seinen kargen Verdienst unter der Rubrik „Nebenverdienst“ in ihre Buchhaltung ein. Die kleine Martha ist ein waches Kind. Sie sieht den Pomp des Nuntius, die ihm zudienenden Nonnen im „Untergrund“ der Nuntiatur, den wunderbaren Garten – und ihre eigenen beengenden Verhältnisse. Doch Fragen sind nicht erlaubt. „Mach ke Komedi!“ oder „Frag nicht so viel“ bekommt sie häufig zu hören. Dass die Nuntiatur keine soziale Absicherung für ihre weltlichen Angestellten vorsah, traf die Familie nach dem frühen, schmerzlichen Tod des Vaters ebenfalls äusserst hart. Die Geistlichen schoben nach einer Anfrage nach finanzieller Hilfe von Mutter Artho den „Schwarzen Peter“ zwischen Bern und Rom hin und her, niemand wollte zahlen.

Keine frohmachende Botschaft

Für die junge Martha gab es viele unerklärliche Vorgänge in der katholischen Kirche. Das Beichten machte ihr Mühe, das Gebot der Nächstenliebe konnte sie bei den Hohen Herren nicht entdecken. Alles Geschlechtliche war tabu, ja unsauber und verboten. Die Lehre der Kirche war auf Gehorsam bis in den winzigsten Lebensbereich ausgerichtet. Und der Leitspruch der katholischen Mutter hiess: „Lieber Unrecht erdulden, als etwas Unrechtes tun.“ Fragen waren zwecklos. Martha aber wollte nicht einfach „mitgemeint“ sein, sondern eine eigene Stimme haben. Das Buch von Iris von Rothen – FRAUEN IM LAUFGITTER – war für sie wie ein Weckruf und trug viel zu ihrer „Emanzipation“ bei. Sie wollte frei sein und nicht ständig von Umständen und andern Menschen bestimmt werden. Irgendwann stellte sie fest, dass sie über Jahrzehnte mit «angezogener Handbremse gelebt hatte. Und so löste sie die Handbremse, indem sie 1990 aus der für sie so einengenden Kirche austrat und sich künftig das eigene Denken ohne schlechtes Gewissen zugestand. 

Rolle der Frau in den Nachkriegsjahren ab 1945

Während des 2. Weltkrieges hatten auch die Schweizer Frauen teils fast unmenschliche Arbeitspensen zu bewältigen. Die Männer waren an der Grenze, zuhause mussten aber Betrieb und Familie dennoch weitergehen. Selbstverständlich waren auch die Kinder in den Arbeitsalltag eingebunden. Die Frauen hatten politisch keine Rechte, wurden zu demütigem, dienenden Verhalten erzogen und auch punkto Bildung möglichst kleingehalten. In dieser Zeit war es deshalb erstaunlich, dass Martha Béerys Mutter so erfolgreich einen Laden führen, sich ständig weiterbilden und auch nach dem Tode des guten Lebensgefährten die Familie zusammenhalten konnte. Sie war die heimliche „Familienchefin“, was man in der Fachsprache als „Informelle Hierarchie“ bezeichnet, denn rechtlich hatte ja der Mann als Oberhaupt der Familie diese nach aussen zu vertreten. Als 1971 endlich das Frauenstimmrecht eingeführt werden konnte – wenigstens fast überall… -, besserte sich die Lage. Aber erst das revidierte neue Eherecht von 1988 beseitigte die unzähligen Ungerechtigkeiten im Erb- und Familienrecht zum grössten Teil.

Martha Béery-Artho

Und natürlich kam die Buchprotagonistin auch noch selber zu Wort. Jolanda Spirig führte ein kurzes, lockeres Gespräch mit ihr. Dabei bezog sie sich auf das ihr zur Verfügung gestellte Tagebuch aus Martha Béery-Arthos Jugendtagen. «Wie war das für dich, deine pubertären Gedanken schwarz auf weiss zu lesen?», fragte sie. Vieles sei ihr peinlich gewesen, sagte die Protagonistin, doch seien diese Passagen wichtig, um zu verstehen, wie sie damals dachte und wie sehr sie von den kirchlichen und gesellschaftlichen Normen geprägt worden war.

Jolanda Spirig dankte auch den zahlreichen Stiftungen, die das Buchprojekt finanziell unterstützt hatten, unter diesen auchr das Migros-Kulturprozent. Die Familie von Martha Béery-Artho lud darauf zu einem feinen Apéro ein, serviert von jungen Beery-Nachkommen.

Im folgenden Link stellt sich Martha Béery auf einer interessanten Homepage näher vor. Forum für Philosophie


Die Tageszeitung DER BUND hat ebenfalls einen Artikel zum neuen Spirig-Buch veröffentlicht. Artikel im BUND vom 11.03.2020

[i] So benannte man Waren, die aus Übersee – den Kolonien – stammten, wie Zucker, Tabak, Gewürze, Tee, Reis und dergleichen.

Und so präsentiert sich das Buch.