Wir sind alle anders aufgewachsen!

Wir sind alle anders aufgewachsen!

6. Juni 2023 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

11 Porträts von aussergewöhnlichen Lebensläufen

Seraina Sattler und Anna Six sind beide Journalistinnen. Beide schrieben vor Jahren für Zürcher Presse-Medien. Und beide sind Mütter. Die Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil lud die beiden Frauen ein, ihren Mitgliedern einige dieser spannenden Lebensgeschichten näherzubringen. Donnerstagsgesellschaft Oberuzwil

Das Interesse an Lebensgeschichten hat Seraina Sattler (*1976) seit jeher begleitet. Auch Anna Six (*1982) interessiert das Besondere, das Nichtalltägliche. Die beiden Frauen überlegten erst gemeinsam aktuelle Themen, die anhand von Kindheitserinnerungen zu einem Porträt geformt werden könnten. Themen wie «Zölibat», «Young Carers» – junge Teenager, die ihre Angehörigen pflegen (müssen) – «Regenbogenfamilie» oder «Zölibat», aber auch «Adoption» oder «Behinderung». Entsprechend suchten sie nach Menschen, die mit ihrer Kindheitsgeschichte zu einem Thema passten. Sie wollten nicht möglichst viel vom Gleichen, sondern eine breite Debatte über verschiedene Gesellschaftsthemen anstossen. Das ist ihnen mit diesem schön aufgemachten, 183 Seiten umfassenden Buch denn auch gelungen. Anders aufgewachsen – Seraina Sattler und Anna Six


Vorstandsmitglied Ellen Schout Grünenfelder hatte von diesem Buchprojekt gehört und sich davon begeistern lassen – mit ihr das grosse Publikum.

Publikum bestimmt Porträtwahl

Wie bei einem «Musik-Voting» forderten die beiden Frauen das Oberuzwiler Publikum auf, aus jeweils drei Porträtbildern durch Klatschen ihren Favoriten für eine Lesung zu wählen. Leicht war die Entscheidung nicht, da man allein durch den äusseren Eindruck auslesen musste. Drei Mal spielten sie dieses Prozedere durch, und drei Mal lasen sie aus dem entsprechenden Porträt. Abwechslungsweise las eine der Frauen einen Teil eines Porträts, überhüpfte dann einen Teil dieser Lebensgeschichte, um auch das Erwachsenenleben dieser Person anzusprechen. Die Texte sind in der Ich-Form verfasst. Die Autorinnen achteten sehr darauf, die porträtierten Personen auch mit der diesen eigenen Ausdrucksweise sichtbar zu machen. So kommt man nahe an die Geschichte heran, die jedoch verständlicherweise immer nur einen kleinen Ausschnitt eines Lebens wiedergeben kann.


Anna Six – links – und Seraina Sattler lasen abwechslungsweise aus ihrem Buch und tauschten sich dazwischen auch über ihre Erfahrungen aus.

Viel Zeit investiert

Die beiden Frauen haben viel Zeit in die Gespräche mit ihren Porträtierten investiert, diesen genau zugehört. Das passierte meistens an einem neutralen Ort. Für viele Menschen ist es ja leichter, jemand Fremden seine Geschichte zu erzählen, da man so die Deutungshoheit über das Geschehene bei sich behalten kann. Im familiären Umfeld ist das oft schwieriger, weil alle darin Lebenden zwar in den gleichen Verhältnissen aufwuchsen, diese jedoch sehr häufig völlig unterschiedlich in Erinnerung behalten haben. Kein Zufall ist es, dass es im ganzen Buch nur gerade drei Männerporträts gibt. Eigentlich sollten es ja zwölf Porträts werden, doch eine Person hat nach reiflicher Überlegung – das Porträt lag bereits druckfertig vor – von einer Veröffentlichung Abstand genommen. Im Buch sind alle – bis auf die beiden Mütter von Peter – mit ihrem richtigen Namen aufgeführt, da brauchte es schon etwas Mut, so einer Offenlegung zuzustimmen. Wie gut, dass dies elf Personen dennoch getan und damit zu einer wichtigen gesellschaftlichen Diskussion beigetragen haben.

Cover des edel aufgemachten Buches – immer Bilder aus der Kindheit und ein aktuelles, von Fotograf Meinrad Schade professionell in Szene gesetzt.

Grosse Betroffenheit

Die Geschichte der 1973 geborenen Lilian Köchli liess einen schaudern. Geboren in den Bergen El Salvadors erlebte sie als kleines Mädchen den Horror des Bürgerkrieges, erlebte, wie ihre Mutter von Todesschwadronen verschleppt wurde, was ihren Vater zu einem verzweifelten, ohnmächtigen Mann werden liess. Später wurde auch er durch Verrat Opfer dieser Terrorgruppierungen. Der Bürgerkrieg ging mitten durch ihre Familie – Familie des Vaters der Guerilla zugeneigt, die Familie der Mutter der Regierungsseite. Männer entführten die beiden noch ganz jungen Kinder.

Erst kamen sie im Palast eines offenbar reichen «Commandante» unter, dann in ein Waisenhaus und schliesslich als zur Adoption freigegebene Kinder in die Schweiz. Doch ihr erster Ort war kein guter. Misshandlungen und Nahrungsentzug wurden mit der Zeit für Nachbarn sichtbar, so dass sie zu einer anderen Familie kamen. Als Erwachsene durfte Lilian einen liebevollen Partner kennenlernen, bekam Kinder und gewann die Einsicht, dass die Vergangenheit nicht rückgängig gemacht werden, sie aber sehr wohl die Hoheit über das jetzige und zukünftige Leben haben könne.

Tabubrüche

Verschiedene Menschen im Buch haben in ihrer Kindheit Lebensumstände durchlebt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch stark tabuisiert wurden. Wenn ein Mann wie Peter zwar erst in einer «normalen» Familie aufwuchs, sich seine Mutter aber nach einigen Jahren einer Frau zuwandte und von da an ihr Leben mit dieser teilte, natürlich mit ihrem Sohn, so war das damals äusserst unkonventionell, für viele gar nicht vorstellbar. Als Kind hat man ja keine Wahl, man muss einfach akzeptieren, was die Erwachsenen entschliessen. Auch als Kind eines Priesters aufzuwachsen war – ist es auch vielleicht noch heute – ein Tabu. Die Protagonistin dieser Lebensgeschichte hat allerdings immer gewusst, wer ihr Vater sei und mit diesem auch eine liebevolle Beziehung pflegen dürfen, einfach unter dem Siegel der Verschwiegenheit nach aussen.

Beziehung macht Menschen stark

Bei allen Porträts schwingt eine lebensbejahende Atmosphäre mit. Selbst unter widrigsten Umständen gab es immer entweder andere Menschen oder eine grosse innere Stärke, die die Gegebenheiten aushalten liessen. Heute benennt man diese Stärke mit dem Fachbegriff «Resilienz». Beide Frauen betonten, wie sehr Beziehungen ein Leben prägen. Das können aber auch andere Personen als die leiblichen Eltern sein. Am wichtigsten ist das Gefühl, als Person wahrgenommen, wertgeschätzt und hoffentlich auch geliebt zu werden.

Was machte die Arbeit mit den Autorinnen?

Bei der anschliessenden Fragerunde stach die Frage heraus: «Was hat die Arbeit an diesen Porträts mit Ihnen persönlich gemacht?» Beide Frauen antworteten darauf ganz ähnlich. Sie würden, seit sie Mütter seien, noch achtsamer im Umgang mit anderen Menschen sein. Das Ganze sei ein Prozess gewesen, der auch Überlegungen zur eigenen Kindheit mit sich gebracht habe. Ihre Erkenntnis nach dem langen Werdeprozess bis hin zum gedruckten Buch: «Wir sind alle anders aufgewachsen!» So die Widmung in den Büchern, die sie am Schluss verkauften.

Im «Mamablog» des Tages-Anzeigers hat die Journalistin Nicole Gutschalk ein Interview mit den beiden Autorinnen veröffentlicht, in welchem viele Überlegungen der beiden Frauen nachgelesen werden können. Mamablog: Interview zum Buch «Anders aufgewachsen»

Unterdessen wurde bereits die zweite Auflage gedruckt. Lebensentwürfe anderer Menschen interessieren eben immer. Man kann diese mit dem eigenen Leben vergleichen, vielleicht sogar Anstösse zu Veränderungen im eigenen Leben entdecken.

Nächster Anlass der Donnerstags-Gesellschaft Oberuzwil: Donnerstag, 21. September 2023, um 20:00 in der Alten Gerbi Oberuzwil. Unter dem vielsagenden Titel «Kasettli» lässt die aus Oberuzwil stammende Sängern Conny Dierauer-Jahn Episoden aus den wilden 80-er Jahren aufleben.

Das Buch ist im Christoph Merian Verlag erschienen. ISBN-Nummer 978-3-85616-970-1