Tours – Auf St. Martins Spuren

13. Oktober 2023 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

In Deutschland brutzelt am 11. November die Martinsgans in der Ofenröhre, in Frankreich wird dagegen der europäische „Sankt-Martin-Wanderweg“ eingeweiht. In Tours – denn die Spuren des heiligen Martin, Patron der Wanderer, Reisenden und Weinbauern, führen vor allem in den zwischen Loire und Cher gelegenen „Garten Frankreichs“.

Schon von weitem grüsst in Tours St. Martin von der Kuppel der neuen Basilika, die 1902 fertig wurde. Es heisst, die Figur schütze Tours nach Süden hin. Das Gotteshaus im historisierenden romanisch-byzantinischen Baustil beherbergt das Grabmal des heiligen Martin. Bereits kurz nach seinem Tode am 8. November 397 wurde seine Grabstätte zum Wall­fahrtsort – damals dem bedeutendsten nach Jerusalem und Rom. Westlich der gallo-römischen Stadtgründung „Caesaro­dunum“ entstand durch die Flut der Pilger „Martinopolis“ mit Basilika und Kloster. Heute zeugen von dieser fünf­schif­figen Kirche nur noch der Uhrturm und der Turm Karls des Grossen. Lediglich Pflastersteine markieren die einstigen Ausmasse des bis zu 110 Meter langen Sakralbaus.

Mantelteilung vor den Stadttoren von Amiens

Erst beim Angriff der Engländer Mitte des 14. Jahrhunderts wurden beide Stadtteile durch eine gemeinsame Stadtmauer vereinigt. Die erste Begegnung mit dem Heiligen haben die meisten Besucher in der Kathedrale St. Gatien. Nach dem ersten Bischof von Tours benannt, zeigt sie die Baustile aus vier Jahrhunderten. Die Glasfenster aus dem 13. Jahrhundert tauchen das Kircheninnere in ein mystisches Licht und erzählen die Geschichte vom heiligen Martin von der Mantelteilung über seine Bischofszeit bis zum Tod.

Als junger Soldat soll der im heutigen Ungarn Geborene vor den Stadttoren von Amiens seinen Mantel mit einem frierenden Bettler geteilt haben. Dann trat er zum Christentum über, legte das Schwert nieder und gründete bei Poitiers ein Kloster. Weil er in dem Ruf stand, ein Heiliger und Wundertäter zu sein, wollten die Bewohner von Tours ihn als Nachfolger ihres zweiten Bischofs. Um dieser Wahl zu entgehen, so erzählt die Legende, habe sich der heilige Martin in einem Gänsestall versteckt. Das Geschnatter aber habe ihn verraten, weshalb das Federvieh nun jedes Jahr dafür büssen müsse. Andere Quellen berichten von seiner Entführung. Belegt ist, dass er 371 das Amt übernahm und bis zu seinem Tod Bischof von Tours blieb.

Es gibt natürlich viele Gründe, die moderne Universitätsstadt, die auch Geburtsort von Honoré de Balzac (1799-1850) ist, zu besuchen. Neben zahlreichen Parks, Märkten und gastronomischen Einrichtungen, in denen die französischen  Kochkünste gepflegt und Weine aus der Touraine angeboten werden, laden Museen in prächtigen Gebäuden zu einem Besuch ein. So informiert das in der Welt einzigartige Musée du Compagnonnage im Kapitelsaal des Benediktinerklosters über Bräuche und Traditionen der Zünfte und wandernden Handwerksgesellen.

Sehenswerte Treppenaufgänge aus dem 15. Jahrhundert

Immer wieder sind es historische Zeugnisse, die in Tours Akzente setzen. Besonders die mittelalterlichen Fachwerkhäuser rund um den Platz Plumerau im Herzen der Altstadt verlocken zum Bummeln und Rasten in den zahlreichen Strassencafes. Sehenswert sind die im 15. Jahrhundert als Türme ausserhalb der Häuser gebauten Treppenaufgänge.

Nur wenige Minuten trennen das bei Studenten und Touristen gleichermassen beliebte Viertel von der Rue Nationale. 1763 wurde sie beim Bau einer Verbindung von Paris zur spanischen Grenze als repräsentative Nord-Süd-Achse durch das mittelalterliche Gassengewirr geschlagen. Heute ist die damalige Rue Royale eine elegante Geschäftsstrasse, die zur 434 Meter langen Loire-Brücke Pont Wilson führt. Muster im Fussboden erinnern an die Seidenmanufakturen, die Ludwig XI. einführte, als Tours Hauptstadt des Königreichs Frankreich war. Bis ins 17. Jahrhundert gab es hier 10 000 Webstühle. Noch heute arbeiten in der Touraine zwei Seidenwebereien.

Der heilige Martin indes ist überall, selbst an Bord des Ausflugsschiffes „Saint Martin de Tours“. Bei seiner Fahrt auf der Loire, die im östlich der Stadt gelegenen Rochecorbon beginnt, passiert es unter anderem Martins einstigen Bischofssitz, das Kloster Marmoutier. Übrigens wurde der Leichnam des Heiligen auch per Schiff von Candes nach Tours zur Beisetzung am 11. November transportiert. Dabei soll die Natur zu neuem Leben erwacht sein. Deshalb spricht man im Loiretal vom Martinsommer, wenn die Temperaturen Anfang November untypisch mild sind.

Cornelia Höhling, ddp 2004