Chilbifahrt von Urnäsch nach Altstätten im Jahre 1926

1. April 2020 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Aus der Verdingbubenzeit von Ernst Brunner

Nachdem man in jenem Jahre sehr gut geheuet und eine Masse Futter für den umfangreichen Viehstand unter Dach hatte, meinte die Meisterin zu ihrem Mann: „Könntest doch den Bub auch einmal mitnehmen an die Augustchilbi!“

„Nein, nein!“, meinte der, „die Arbeit zuhause muss auch gemacht werden!“ Doch dann besann er sich anders und holte mich nachts um zwei Uhr aus dem Bett. Der Nachbar, der auch mitfahren wollte, war schon da, und im Nu war das erst vierjährige Pferd angeschirrt und vor den Leiterwagen gespannt. Die Meisterin brachte noch ein Kissen und eine Wolldecke, damit ich es auch etwas bequem hätte, doch der Meister winkte ab. „Der kann ja unter die Kartoffelsäcke kriechen.“, meinte er.

Es war eine ziemlich kühle Nacht, und so war die ungefähr vierstündige Fahrt über Gonten, Appenzell, Eggerstanden und Eichberg nach Altstätten nicht das reinste Vergnügen für mich mit meinen dünnen kurzen Hosen. Doch hielt ich es auch, denn ich hatte ja schon sechs Jahre hinter mir, um mich an solches zu gewöhnen.

Als wir in Altstätten kamen, war gerade die freundliche Sonne aufgestanden und erwärmte mich rasch. Der Meister wollte beim Landhaus ausspannen und das Pferd einstallen, doch waren sämtliche Stallplätze schon belegt mit einem Dutzend Pferden und etlichen Ochsen. Ich durfte nun mit den zwei Mannen in die Wirtschaft, wo sie sich Fettkäse mit Altstätterwein genehmigten, während ich eine halbe Portion [1]rässen Käse bekam, ohne Getränk. „Kannst ja dann am Brunnen Wasser trinken!“, hiess es.

Während dieser Zeit war das Pferd schon etwas unruhig geworden ob dem Gewieher und Gestank aus dem Pferdestall. Der Meister befahl mir nun, bei dem Tier zu bleiben. „Wenn dann einer der Fuhrleute abfährt, kannst du dann ausspannen und abschirren. Wenn das Pferd im Stall steht, kannst du auch an die Chilbi.“

Aber es fuhr keiner ab, und als es näher gegen Mittag ging, wollte ich auf die Suche nach einem Brunnen, denn der Durst plagte mich mehr und mehr. Der Brunnen vor dem Stall war nämlich trocken, denn das Wasser brauchten die Leute in der Wirtschaft. Ich konnte aber gar nicht vom Gespann weg, denn war ich einige Meter weg, gebärdete sich das Pferd wie verrückt, riss am Zugseil, schlug aus und sprang hochauf. Ich wusste nun also, was zu tun war, durfte nicht weg, denn ich wusste nur zu gut, was es absetzen würde, wenn etwas kaputtging.

Zur Mittagszeit kamen dann die Fuhrleute, um ihre Tiere zu füttern und zu tränken. Und mit einiger Mühe ergatterte ich auch einen Kübel, um das dürstende Pferd zu tränken, wobei ich ebenfalls ein paar Schlucke von dem kühlen Nass erwischte. Dann hiess mich der Wirt den Brunnen putzen, danach wurde das Wasser wieder abgestellt.

Niemand kümmerte sich um meine Lage, und da mein Meister auch „vergessen“ hatte, mir etwas „Münz zu geben, konnte ich mir auch nichts kaufen.

Es wurde trotzdem [2]Vesper. Allmählich kamen die Fuhrleute aus dem Städtli zurück, um einzuspannen und abzufahren. Zuerst kam der Nachbar zu unserem Gespann und wunderte sich, dass das Pferd noch eingespannt war. Ich durfte ihm nun den Tagesablauf erzählen. Darauf kaufte er mir einen Nussgipfel. Bald darauf kam der Meister mit einem Karren, beladen mit einigen Säcken [3]Erdäpfel und einem kleinen Sack Äpfel. Der Nachbar sagte zu ihm: „Der Bub sollte noch etwas trinken können.“, doch da pressierte es plötzlich mit Abfahren. „Er kann ja auf dem Heimweg Äpfel essen!“

Aber das war eine neue Pein, denn die von Sonnenbrand und Durst aufgeschwollenen Lippen schmerzten höllisch, sodass ich schon den Nussgipfel kaum herunterbrachte, geschweige denn den sauren Apfel.

Über den Stoss und Gais-Appenzell ging nun die Heimfahrt wieder zurück nach Urnäsch.

Obwohl ich glaubte, nun auch Feierabend zu haben bei der Ankunft zuhause, täuschte ich mich abermals. Der erste Knecht – die Mutter des Meisters – hatte sich beim „[4]Böschele“ an einer Hand verletzt und konnte daher nur mit Mühe melken, also mussten wir auch noch Hand anlegen.

Ich dachte viel nach, warum das Pferd, eine Stute, so ungebärdig getan hatte. Es nahm sich niemand die Mühe, mir die Vorgänge in einem Pferdeleben zu erklären. Erst sehr viel später kam ich darauf, dass das Pferd zum ersten Mal „rössig“ gewesen war, hervorgerufen durch die vielen Laute aus dem Pferdestall in Altstätten. In Erinnerung an dieses Chilbi-Erlebnis habe ich heute noch eine Abneigung gegen alle lauten Feste.

Ernst Brunner (28.03.1914 – 23.02.1910)


[1] Viertelfetter, sehr rassiger, ja salziger Appenzellerkäse – eine viel billigere Sorte als der gebräuchliche Appenzellerkäse

[2] Vesper – Zeit nachmittags so um 16:00 Uhr herum, dann, wenn man Zvieri isst…

[3] Kartoffeln

[4] Holzwellen aus dickeren Ästen aussenherum und Reisig im Innern, zum Einfeuern des Ofens