Eine Gitzifahrt mit Hindernissen
Ganz genau weiss ich es nicht mehr , ob es 1926 oder 1927 war, als unsere 12 Geissen 15 gesunde [1]Gitzi geworfen hatten. Sechs der weiblichen Tiere sowie ein robustes Böcklein waren zur Aufzucht bestimmt, die übrigen aber fielen dem Schlachtmesser zum Opfer. Soweit dieses Fleisch nicht der Selbstversorgung diente, wurde es meist nach auswärts verkauft.
Es war nun wieder so weit wie jedes Jahr, die letzten fünf Gitzi waren Ende Mai schlachtreif, drei davon von einem Herisauer Störmetzger bestellt. Die restlichen zwei mussten zu einem Verwandten des Meisters nach Gossau gebracht werden.
Der Meister machte diese Lieferungen sonst immer selbst, per Fuhrwerk, doch diesmal war das Pferd nicht zu gebrauchen, denn es hatte sich beim Holzrücken an einer Fessel verletzt. Und mit dem Handwagen auszurücken war unter der Würde des Meisters. So wurden die Altbäuerin und ich für die Tour bestimmt. Wir hatten einen starken Leiterwagen zur Verfügung, der noch mit einem Aufsatz versehen und mit starker Sackleinwand bespannt wurde. Das Gestell wurde in der Mitte unterteilt, die schwersten zwei Tiere im vorderen Teil verstaut und los ging die Reise bei herrlichstem Wetter. Wir waren guten Mutes, denn wir wussten noch nichts von den Schwierigkeiten, die noch kommen würden.
Die Strasse war steil, sodass die Gitzi dauernd nach vorne rutschten. Wir waren erst halb unten, als das erste schon den Kopf durch den Schlitz der Bespannung gezwängt hatte und nun versuchte, mit den Klauen diesen zu erweitern. Bald wurden auch die Übrigen unruhig, und meine Begleiterin hatte alle Mühe, die Tierchen herunterzuhalten. Ich musste die gesamte Last nun alleine bremsen, denn eine Vorrichtung dafür fehlte, und ich war barfuss auf der grobgekiesten Strasse. „Ja, auf der Landstrasse wird es dann schon besser gehen.“, tröstete mich die Frau.
Als wir nahe der Zürchersmühle von einem Arbeiter aus Pfenningers Zwirnerei eingeholt wurden, waren wir der grössten Sorge enthoben, denn er nahm sogleich die Deichsel zur Hand, sodass wir beide die immer unruhiger werdende Schar wieder zurückdrängen konnten. Der Mann sagte zu uns: „So kommt ihr nie nach Gossau! Ich werde schauen, ob ihr den Fabrikhandwagen für die Weiterfahrt ausleihen dürft.“
Der Magaziner war allerdings nicht begeistert von der Frage, denn er hatte bereits drei schwere Kisten voller Spulen darauf zum Verladen auf die Bahn. Aber unser Mann wusste Rat und meinte: „Wir kippen diese Kisten eben nahe dem Gleis auf je eine leere Kiste gleicher Höhe.“ Und so klappte es denn auch, nachdem auch der Chef, Herr Pfenninger, seine Einwilligung gegeben hatte. Die fünf Gitzi erhielten jetzt eine angemessene Wohnung, nämlich eine geräumige, ca. 80 cm hohe Kiste mit einem Gitterdeckel, gefüllt mit viel Holzwolle.
Nun beruhigte sich die Sachlage und die Fahrt ging flott voran bis zum ersten Halt in der Herisauer Säge, wo wir die drei leichteren Tiere abliefern konnten. Es gab einen feinen Znüni, selbstgemachten Fleischkäse und Süssmost, und die Metzgersfrau holte sogar noch extra für uns frische [2]Bürli in der nahen Bäckerei. Um bis am Mittag nach Gossau zu gelangen, mussten wir aber bald wieder losziehen.
Nun ging es zügig Richtung Gossau. Als wir dort zwischen Bahnhof und Butterzentrale durchmarschierten, wurden wir Zeugen eines schweren Unfalls. An der Vorderfront der Zentrale waren Arbeiter am Demontieren eines Gerüstes beschäftigt, als einem dieser Männer eine schwere Gerüstplatte entglitt und einen Monteur traf, der in der Nähe auf einer Wagenbrücke an einem Heizkessel hantierte. Dieser wurde an der Schulter getroffen, wie ein Gummiball vom Wagen geschleudert und blieb mit verkrümmter Wirbelsäule auf dem Pflaster liegen.
Da wir die einzigen direkten Zeugen waren, mussten wir am Ort bleiben, bis die Untersuchungsorgane den Fall geklärt hatten. Das dauerte fast eine Stunde, dabei war es noch fast eine gute Halbstunde bis an unseren Bestimmungsort, sodass wir statt zur Mittags- eben zur Unzeit anlangten.
Es war denn auch schon halb Zwei, als wir endlich am Ziel waren. Die Bäuerin wollte sogleich etwas zum Mittag richten, aber meine Begleiterin winkte ab und sagte, es sei gescheiter, wir würden beim Heuen helfen. Der Heuet war dort in vollem Gange, und der Bauer hatte schon ein grosses Stück Gras mit seinem Zweispänner umgelegt, welches nun noch auf die [3]„Worber“ wartete. Der Bauer befahl seinen Buben – zwei Sekundarschülern -, mir eine handliche Gabel zu besorgen. Und schon nahmen mich die Zwei in die Mitte und fingen an, mich von einer Seite auf die andere zu hetzen.Als aber der Bauer das beobachtete, stellte er sein Gespann in den Schatten und kam zu uns.
Als er dann noch sah, welch ein unmögliches Werkzeug – eine urweltliche Gabel mit viel zu dickem Stil und nach allen Seiten hin verbogenen Zinken – sie mir besorgt hatten, nahm er mich zur Seite und meinte: „Du kannst ja mir etwas helfen.“ Er fragte mich, ob ich daheim auch mit der Mähmaschine fahren dürfe, was ich verneinte, denn für mich war ja nur die unangenehmste Arbeit recht.
Ich durfte mit einem rassigen Zweispänner einige Mahden ziehen, beim Wenden nahm er das Leitpferd an die Halfter. Nun nähere man sich dem [4]„Bungert“ und ich bekam Angst davor, einen Baum anzufahren. Doch so weit kam es nicht. Der Mann nahm das Gespann selber wieder an die Hand. Ich durfte stattdessen im Schatten der Bäume das Gras zu Haufen aufschichten, fürs Eingrasen. Der Bauer zeigte mir nach dem Ausspannen stolz seinen Stall voll prächtiger Kühe, 18 Stück an der Zahl. An diesen gemessen kamen mir die Kühe meines Meisters nur noch wie [5]„Busli“ vor.
Um halb Vier gab’s dann ein feines warmes Essen und ich durfte mich etwas ausruhen. Nachdem die Sommerhitze etwas nachgelassen hatte, ungefähr zwei Stunden später, zogen wir wieder heimwärts zu. Ich hatte Angst, dass wir den schweren Wagen kaum den steilen Sägestich hinaufbrächten. Aber welches Wunder! Gerade bei der Einmündung in die Kantonsstrasse kam uns eine Gruppe Pfadfinder entgegen, dessen Leiter uns nach dem Ziel fragte. Nun übernahmen sie das Gefährt, und wir zwei Trabanten durften uns bei flottem Tempo am Wagen festhalten. So ging es bis nach Waldstatt, und nun waren wir jeder Sorge enthoben, denn von da an war der Weg gut zu bewältigen. Bis wir schliesslich mit dem eigenen Handwagen wieder zuhause ankamen, zeigten sich schon die Sterne am Himmel.
Ich habe immer wieder nachgefragt, ob der Unfall in Gossau tödlich verlaufen sei, habe aber leider nie eine Antwort darauf erhalten.
Ernst Brunner Veröffentlicht im Gääserblättli am 19.Mai 1989
[1] Junge Ziegen
[2] Kleine Brötchen
[3] „Worben“ bedeutet im Appenzellerland das Auseinanderwerfen des frischgeschnittenen Grases mit der Heugabel, was früher eine sehr strenge Arbeit war, da man wartete, bis das Heu eine gewisse Höhe hatte.
[4] Bungert: eine Streuobstwiese, also eine Wiese mit Obstbäumen, die aber gemäht werden muss
[5] Busli: einjährige Rinder