Ganters Sieg und Ende

16. Januar 2019 Aus Von Annelies Seelhofer-Brunner

Es war im dritten Verdingjahr, ich also 8 Jahre alt, in dem ich dem provisorischen Kostort entronnen war, wo es als Verpflegung oft Hühnerfutter und Ähnliches gegeben hatte. Nun war ich ja bei einem hablichen Bauern, und man hatte mir versprochen, da würde ich es gut haben. Das war aber trügerisch, denn die Kost war sehr unterschiedlich zwischen der Meisterschaft und mir, dem Achtjährigen.

Der Meister war ein geschickter und vielseitiger Mann, ja, er war auch einer der stärksten Männer weitherum, danebst ein erfolgreicher Jäger und in der ruhigen Zeit auch ein beliebter Störmetzger. Kleintiere wie Kaninchen, Kitze oder Geflügel mussten ihm zum Haus gebracht werden. Da es bald Weihnachten war, brachten ihm Nachbarn und andere Bekannte eine grössere Anzahl Kaninchen, es hatte auch „Pseudokaninchen“ darunter, die er dann am letzten Samstag vor Weihnachten der Reihe nach in den Tod beförderte. Ich musste ihm dabei behilflich sein, d.h. jedes Tier an den Hinterläufen aufhängen.

In einer Viertelstunde waren die Innereien entfernt und das Fell abgezogen. Ich musste dann das Fell markieren, um Verwechslungen vorzubeugen, und diesen an den gleichen Nagel wie das Schlachtstück hängen. Die Arbeit war gerade fertig, da sagte der Meister: „So Bub, jetzt kommst halt du dran.“ Da er sonst kaum je ein Wort mit mir sprach, nahm ich das für bare Münze und wollte gerade losheulen, als ein Bekannter mit einem Tier im Sack erschien. Daraus schaute ein Kopf mit orangem Schnabel heraus.

Diese Gans müsse „gemetzget“ werden, denn sie sei aggressiv gegen die Kinder geworden, berichtete der Mann. Ausgepackt entpuppte sie sich als wunderschönes Tier, schneeweiss im Gefieder, mit dunkelorangem Schnabel und aufgestellten Federchen um die Augen, was einer Brille glich. Der Meister meinte, man sollte das Tier noch etwas leben lassen und machte ein Kaufangebot. Dies war dem Manne gerade recht.

Es war ein Gänserich, er gebärdete sich schon während des Eingesperrtseins zur Gewöhnung an die neue Umgebung mit wenig freundlichen Gesten, ja, er war ein Meister im Flügelschlagen und einen anfauchen. Man gab ihm nach wenigen Tagen Freilauf, und er verschaffte sich bald die Oberherrschaft über das gesamte Geflügelvolk, aber auch das genügte ihm nicht, denn bald nahm er auch mich ins Auge. Da ich immer Ordnung in Scheune und Umgebung halten musste, hatte er leichtes Spiel, mir zu drohen, doch es ging noch einige Zeit, bis er mich das erste Mal in eine Wade zwickte. Von da an hatte ich ständig „Bläuelen“ an den Beinen, denn das Vieh liess mir keine Ruhe mehr.

Es war an einem Sonntagmorgen, ich war am Abräumen von Schnee von der „Bsetzi“, als er mich gleich mehrmals von hinten erwischte. Da ein Bein ganz blau war, schmerzte es zünftig, sodass ich zu „schnupfen“ anfing. Da kam der Meister dazu und wollte wissen, was es da zu „brüele“ gäbe. Als ich ihm die Bläuelen zeigte, lachte er laut und meinte, dass er nie geglaubt hätte, dass ich so ein „Blöterlig“ wäre, der nicht einmal diesem Vogel „heer“ werde. Er gab mir den Rat, die Gans doch am Hals zu packen, dann könne ich sie sicher umwerfen und auf ewig von mir fernhalten.

Gesagt, getan! Also erwischte ich den Gänserich mit beiden Händen, aber statt ihn umwerfen zu können, streckte er sich und schlug mit den Flügeln derart, dass ich umfiel. Im Nu war das Biest über mir und wollte mit dem mächtigen Schnabel mein Gesicht bearbeiten. Nun kam mir der Meister doch zu Hilfe, aber das Ganze dünkte ihn doch lustig.

Der Ganter war aufgerichtet bedeutend grösser als ich, denn er war ein Vielfrass und wurde bis zum Frühling fast abnormal schwer. Den Winter über konnte ich das Tier von mir fernhalten, aber nur mit Besen oder Stecken, doch das Schlagen war nie meine Stärke, und so erwischte er mich doch noch einige Male.

Der kalte Frühling liess vielerorts Holzvorräte schwinden, während bei uns noch ein ganzer Schopf voll Holz auf den Verkauf wartete. Eines Morgens musste der Meister eine Fuhre Büscheli nach Herisau bringen. Also mussten alle Erwachsenen und natürlich auch ich diese zum Wagen tragen. Dies passte dem Ganter, und jedes Mal, wenn ich in die Ecke kam, bekam ich einen Hieb. Nun sprach die Altmeisterin ein Machtwort. Jetzt sei es genug, und wenn der Meister nicht reagiere, werde sie für das Ende sorgen, worauf der Mann dann doch handelte.

Was ich allerdings vorher nicht gewusst hatte: Das schöne und intelligente Tier fehlte mir nachher sehr!

Ernst Brunner

Im Anzeigeblatt Gais veröffentlicht am 5. November 1993

Ernst Brunner mit 91 Jahren