Nana verletzte sich
„Nana“ ist zwar kein appenzellisches Wort, aber es wurde von den Kindern der Meistersleute an meinem Verdingplatz für die Grossmutter so verwendet, weil die Mutter des Meisters eine Vorarlbergerin war. Die Kinder waren dort auch öfters in den Ferien.
Ich war also Verdingbub, die Nana der erste Knecht im Betrieb. Dieser umfasste fast alle heimischen Tiere. Der Meister aber war nur daheim, wenn Dringendes nachzuholen war. Das war dann nicht so gemütlich für die „Alte“ – so nannte der Meister seine Mutter – und für mich. Die Holzböden und die Knie wurden bei Mensch und Vieh dann ausgiebig eingesetzt.
Der Meister, ein begnadeter Jäger und auch sonst ein Alleskönner, hatte viele Hobbys, die er ausgiebig ausübte, weshalb er zum Glück für uns beide nicht allzu oft zu Hause war.
Nana war das Gegenteil, eine unermüdliche Arbeitskraft, die mich oft von allzu schwerer Arbeit entlastete. Den Sommer über machte sie jedes Jahr gegen 100 „Böscheli“. Ich hatte oft Mühe, ihr genügend Arbeitsmaterial herbeizuschaffen. Der Meister verkaufte diese dann meist in Herisau, denn dank ihrer guten Qualität waren diese ein begehrtes Feuerholz.
Der Meister bezahlte ihr keinen Lohn, aber sie durfte jeden Freitag mit einem Korb voller Eier und einem Korb Buttermödeli, bei deren Zubereitung sie eine wahre Künstlerin war, auf den Herisauer Wochenmarkt. Wenn die Körbe sehr schwer waren, durfte ich ihr bis zur Bahnstation Zürchersmühle tragen helfen.
Nana und ich waren einander von Anfang an sympathisch. Obwohl sie keine Schwätzerin war, erzählte sie mir manches, während der Meister nebst barschen Befehlen nie ein Wort mit mir redete. Für ihn war ich der „Du bischt nütz ond werscht nütz!“
Es war Sommer und der Heute gerade gut beendet. Der nie endenwollende Lauf mit den Bördeli war also für einige Zeit überstanden, aber ich höre heute noch – mit mehr als 70 Jahren – seine Worte: „Chascht nüd echli mehr springe?!“
Nun waren die Kirschen reif, denn obwohl der Hof über 1‘000 m über Meer lag, waren einige stattliche Bäume vorhanden. Es war Sonntagvormittag, und es kam Besuch zu Nana. Die Meisterin rief mich und befahl, sie zu suchen und herzuholen.
Nana hatte eben einen Kratten mit Früchten des frühesten Baumes gepflückt, wollte einen Augenblick ausruhen und schlief im Sitzen ein. Als ich näher kam, erschrak ich sehr, denn ihre blossen Beine waren voll Blut.
Über den Bauch hatte sie eine windelartige Bedeckung. Ich rannte sofort ins Haus und meldete der Meisterin: „Nana ist verletzt und blutet stark!“ „Wo blutet sie?“ „An beiden Beinen“, gab ich zur Antwort. Nun kam eine völlig unerwartete Reaktion. Die Meisterin, die gerade am Windelwaschen war, nahm mit jeder Hand eine aus dem Zuber und schlug wütend auf mich ein, während sie schrie: „Und du hast hingeschaut, du himmeltrauriger Lausbub! Ich werde dich lehren, Anstand zu wahren!“
Ich hatte keine Ahnung, warum es zu diesem Ausbruch kam, denn ich wusste damals halt noch nichts von einem weiblichen Zyklus. Tags darauf klärte mich dann Nana über diese Sache auf. Sie, die gegen die Sechzig zuging, habe in den letzten zehn Jahren nur noch schwache Blutungen gehabt. Nun sei es halt mit der gestrigen Blutung eben ganz unerwartet über sie gekommen, sie hoffe aber, dass es nun das letzte Mal gewesen sei. So wurde ich als zehnjähriger Bub etwas plötzlich aufgeklärt.
Nana musste während meiner neunjährigen Verdingzeit natürlich auch öfters mit mir schimpfen, tat es aber nie in verächtlicher Art.
Ich erinnere mich auch, wie sie mich einmal, als die Meistersleute abwesend waren, fragte, ob ich zum Zmittag lieber Apfel- oder Birnenmus wolle. Allerdings hatte sie bereits gewusst, dass ich Birnenmus liebte und dieses schon vorbereitet. Sie servierte es mir mit brauner Butter und einem ganzen Löffel voll gewärmtem Bienenhonig. Mhhhh!!! Ist es da ein Wunder, dass ich auch heute noch oft an Nana denke?
Ernst Brunner
2002 aufgeschrieben, aber nicht veröffentlicht.