Verdingt, aber nie betreut
Ich wurde 1914 in der Schönau in Urnäsch geboren. Mein Vater war 1910 von Schaffhausen hergekommen, wo er als Giesser durch einen Unfall einäugig geworden war. Er erhielt Arbeit als Wegmacher an der Schönaustrasse, Route Schönaustrasse – Tell – nach Bächli-Hemberg. Da er im Dorf ordentlich beliebt war, konnten wir im Frühling 1919 ins Dorf zügelten, wo Vater in der Heide-Fabrik (Koller & Halter) ein Posten angeboten worden war. Diesen konnte er aber nicht antreten, denn einen Tag nach dem Umzug erwischte ihn die damalige Grippe, an der er nach 9 Tagen verstarb, obwohl der Dorfarzt, der ihm ein guter Freund war, ihn täglich gepflegt hatte.
Alles, was Vater besass, übertrug die Mutter einem [1]Feilträger. Als alles, die wertvollen Bücher, viel Werkzeug, Altertümer, ja sogar die Kleider vertrödelt waren, verduftete der „Herr“ mit dem Erlös. Wir drei Geschwister wurden nun von der Heimatgemeinde Hemberg an eine arme Familie verkostgeldet, wo wir grösstenteils mit Hühnerfutter und Gemüse aus dem Wasser anstatt mit Milch, Brot und Fleisch verköstigt wurden. Die beiden Geschwister fanden bald ordentliche Plätzli, während ich von einem Bergbauer gekapert wurde. Ich war damals genau 6 Jahre alt, gleichzeitig war da Schulanfang.
Im ersten Jahr hatte ich es bei dem jungen Paar recht schön, durfte Kindsmagd sein beim ersten Kind, durfte Schöppli kochen und die Reste geniessen. Als ich in die zweite Klasse kam, sagte der Meister: „So Bub, jetzt ist es mit dem [2]Töggele vorbei!“ Von da an musste ich in aller Frühe in den Stall. Die erste von allen war die Mutter des Meisters, die hatte alles im Griff. Es waren ungefähr 50 – 60 Stück Rindvieh, dazu 15 Geissen, zwischen 6 und 8 Muttersauen sowie alle Arten von Geflügel zu besorgen. Meine tägliche Pflicht war es, beim Jungvieh auszumisten, die Tiere zu striegeln und zu putzen.
In der vierten Klasse „erbte“ ich von den Tieren den „Chälblibläss“, eine gefährliche Hautkrankheit. Das Geschwür fing am Hals an und frass sich während eines Vierteljahres bis zu den Waden hinunter. Ich durfte in dieser Zeit nicht zur Schule, kein Arzt wurde beigezogen. Dafür wurde ein patentes Hausmittel angewendet: Man wasche den ganzen Körper vor dem Schlafen zuerst mit Essigwasser, dann mit Milchwasser, tupfe ab und bestreue dann die Geschwüre mit feinem Zucker, stecke die kranke Person in einen starken Sack, damit sie sich nicht kratzen könne. Zwei Buben des Meisters wiesen selber auch Spuren der Krankheit auf, wurden aber bestens verarztet und die Krankheit dadurch gestoppt.
In der 7. Klasse hatte ich nochmals eine schwere Krankheit zu überstehen. Das kam so: Der Meister betätigte sich auch als Störmetzger. Einem Nachbar musste er einen kranken [3]Jager [4]metzgen und verarbeiten. In einer Ecke hörte er ein Röcheln, dort war ein weiteres Tier gerade am Verenden. Es war hochgradiger [5]Rotlauf. Der Meister gab fünf Franken für das 60 kg schwere Tier, rüstete es auf, sulzte es ein und hängte die Stückli eine Woche später in den offenen Kamin. Während eines Vierteljahres wurde nun alles schwarz geräuchert. Als er danach eines anschnitt, kam eine süssliche Brühe heraus. Der Meister befahl seiner Frau: „Dieses Fleisch kann der Bub essen, gib ihm nur jedes Mal eine rechte Portion. Das gab es von nun an morgens, mittags und auch abends…
Am dritten Tag musste ich in der Schule erbrechen. Nachdem ich selbst hatte aufputzen müssen, schickte mich der Lehrer heim. Das Gleiche passierte noch zwei Mal, da meinte der Lehrer: „Du musst nicht mehr kommen, bis die Sauerei behoben ist.“ Dies war dem Meister noch so recht, nun konnte er mich von einer Arbeit zur andern hetzen, den ganzen Tag.
Ich ertrug fast keine Nahrung mehr, aber es gab auch diesmal ein probates Mittel: Ein Beckeli Ziegenmilch, darin ein Löffel Kümmel gesotten, und das drei Mal pro Tag. Ich bin sicher, dass mich die Geissmilch am Leben hielt, denn die Ziegen konnten sich in völliger Freiheit an der Vielfalt der Kräuterwelt bedienen.
Mein verdorbener Magen und der Knick und der Wirbelsäule blieben mir für mein weiteres Leben erhalten.
- [1] Feilträger – einer, der mit allem Möglichen handelt
- [2] Töggele – spielen
- [3] Jager – 25 – 30 kg schwere Jungschweine
- [4] töten
- [5] Hochansteckende Infektionskrankheit
Ernst Brunner