Weihnachtsfeier eines Verdingbuben in den Jahren 1926 und 1927
Heute möchte ich meiner Leserschaft erzählen, was ich als Verdingbub etwa an Weihnachtsfreuden erleben konnte.
Ich war in der sechsten Primarklasse im Jahr 1926. Am 24. Dezember musste ich wie immer um halb Sechs aufstehen und gleich in den Stall gehen, wo es galt, den Mist von etwa 60 Stück Vieh hinauszuschaffen. Auch die Mutter des Meisters – die auch so etwas wie ein Knecht war beim Jungbauern – war schon zur Stelle. Diese etwa sechzigjährige Frau war eine „tiptope“ Melkerin, aber auch sonst eine hervorragende Arbeitskraft. Wenn viel zu melken war, kam der Meister, um etwa die ergiebigsten Kühe zu bedienen. Sonst überliess er die ganze Stallarbeit gerne seiner Mutter und mir.
Ihr Mann bewirtschaftete allein ein kleines, schönes Heimetli und brachte jede Woche zwei Mal etwas Magermilch für unsere Schweine. Unsere Milch brachte man dann in die Küche zum Zentrifugieren, was jeden Morgen und Abend meine Arbeit war, da ich es ordentlich loshatte, jene Maschine auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Aus Rationalisierungsgründen hat mir der Meister dann auch noch beigebracht, dass ich gut gleichzeitig umdrehen und essen könne. Zum Schluss durfte ich dann noch einen Moment am Tisch sitzen, um ein Beckeli Geissenmilch zu genehmigen.
Ich war noch mit dem Umdrehen beschäftigt, als die Türe aufging und der Senior erschien, mit dem Tansli auf dem Rücken. Er redete nun den Sohn an: „Ich bringe dir da noch 15 l Magermilch, möchte aber endlich einmal abrechnen, nachdem ich nun eineinhalb Jahre nie einen Rappen erhalten habe.“ – „Nein, nichts wird bezahlt, kannst ja deinen Güdel wieder mitnehmen.“ Nach einer hitzigen Diskussion, wobei der Junge den Vater handgreiflich bedrängte, riss sich dieser los, taumelte rückwärts und kippte hintenüber ins offene Kellerloch. Denkt, wie das tätschte, als er mit dem Blechtänsli unten aufschlug. Da es Zmorgenzeit und alles in der Küche versammelt war, kann man sich die besorgten Gesichter vorstellen. Und die Frage stand im Raum, wieso jetzt noch vor dem Heiligen Abend ein Unglück geschehen müsse. Aber – oh Wunder! – das drahtige Mannli kam wieder die Stiege herauf, ausser ein paar Kratzern im Gesicht hatte der Fall kaum Spuren hinterlassen.
Das kam so: Das Tansli auf dem Rücken hatte eine gute Federwirkung, war aber auch ganz flachgedrückt. Mit dem Kopf war der Mann in einen Haufen Besenreisig gestürzt, welches man zwecks Feuchthalten im Vorkeller aufgeschichtet hatte. Der Mann zog darauf ab, ohne ein Wort zu verlieren. Der Meister rief ihm noch nach, er solle sich zwecks Forderungen nie mehr hier blicken lassen.
Nach dem Morgenessen wollte ich mich wie üblich für die Schule rüsten, der Meister aber verfügte: „Heute musst du nicht in die Schule, denn der Haufen Mist muss noch weggeschlittet werden, hast eben gestern zu wenig ausgerichtet.“ Auch komme es wahrscheinlich zum Stürmen, dann wäre der ganze Schlittelweg wieder zugeschneit. Ich hatte danach den ganzen Tag Arbeit, um all den Mist wegzubringen, durfte aber abends etwas früher in den Stall, denn es hiess: „Um halb acht Uhr wird dann Weihnachten gefeiert.“
Als dann alle, die Meistersleute, ihre sechs Kinder, die Grossmutter und ich zusammen waren, konnte mit der Bescherung angefangen werden. Die Familieneigenen wurden recht reichhaltig beschenkt. Ich bekam ein Hemd, eine Zipfelkappe, einen Kranz Feigen und ein kleines Zöpfli. Ich hatte mich aber noch auf etwas Anderes gefreut, denn die Meisterin hatte vor einiger Zeit verlauten lassen, dass sie mir Unterhosen beschaffen wolle, denn ich hatte nur dünne, ungefütterte Unterhosen. (Im Winter 1926 hatte man mehrere Tage lang Minustemperaturen von mehr als -30°C.) Aber es gab keine Unterhosen, denn der Meister meinte: „Der Bub kann einfach etwas schneller laufen, dann friert er auch nicht.“
Von meiner Mutter bekam ich zu jener Weihnacht das einzige Spielzeug, das ich während der ganzen Jugendzeit je hatte, nebst einer grossen Blockschokolade – sonst sah ich das ganze Jahr über nie ein einziges Täfeli! Meine Mutter wohnte mit ihrem dritten Mann ganz in der Nähe, aber ich durfte sie pro Jahr nur zwei- bis drei Mal besuchen. Das Spielzeug bestand aus einer Windmühle aus Karton – bei Jelmoli gekauft -, bei der man die Feder mit einer Schnur an einem Lädeli arretieren konnte. Daran hatte es ein Gewehrli samt Holzpfeil mit einem Gummi vornedran. Wenn man das Lädeli traf, kamen die Flügel in Schwung. Ich hatte riesige Freude an dem Monstrum und wollte es gleich ausprobieren.
Aber der Meister meinte: „Das kannst du doch nicht, das muss schon ich als alter Schütze einweihen!“ Er hat dann das Lädeli wahrlich etwa drei Mal getroffen. Als er sah, dass die Grossmutter eingeschlafen war, zielte er auf ihre Backen und schoss. Das alte Weibli erschrak derart, dass es mit einem Schrei aufschoss, das Haus verliess und dem Heimetli ihres Mannes zustrebte. Dass dort auch nicht unbedingt gemütlich Weihnachten gefeiert werden konnte, kann man sich denken, nach der Geschichte mit der Magermilch. Meine Windmühle wurde dann am selben Abend solange probiert, bis die Feder kaputt war, ohne dass ich selber auch nur einmal selber geschossen hätte…
Als ich noch Lust auf einen Biss Schokolade hatte, meinte der Meister, es wäre doch schade, diese schon anzureissen, man sollte sie noch eine Weile versorgen, was er natürlich selber tat. Ich habe danach nie mehr etwas von ihr gesehen.
Ein Jahr später schenkte mir meine Mutter eine leichte, halbgrosse Schneeschaufel, weil ich von der oft tagelangen Schneebrucharbeit geschwollene Handgelenke bekam. Der Meister aber wollte von deren Gebrauch nichts wissen, denn ich müsse mit rechtem Geschirr arbeiten lernen. Mich behinderten diese entzündeten Handgelenke aber stark beim Melken, aber auch beim Schreiben in der Schule. Die geschenkte Schaufel landete dann im Saustall. Wenn es viel Schnee hatte, musste ich mit dem Meister auch an die Gemeindestrasse zum Pfaden. Vom eingezogenen Lohn habe ich aber nie einen Rappen gesehen.
Am 24. Dezember 1927 kam nachmittags ein Nachbarsbub berichten, man sollte noch den Weg öffnen, denn der „Gmüesler Brühlma“, der jeweils vom Vorderland in unsere Gegend kam, habe wegen der „Wächten“ ausgelehrt. Das leichte Pferd sei nur so herumgetaumelt. Wir sorgten dann dafür, dass das Tier wieder festen Boden unter den Hufen fassen konnte. Die grosse Schar Nachbarskinder half eifrig mit, die im Schnee verstreuten Mandarinen, Nüsse, Datteln und Feigen aufzulesen, wobei aber ein schöner Teil in ihren Hosensäcken landete.
Der Brühlma jammerte: „Zerscht usgläärt ond jetzt fascht alles ganz weg.“ Mir hat er aber aus einem verschlossenen Kistli einen grossen Kranz Feigen verehrt, fürs wackere Helfen. Nach all diesen Vorfällen habe ich feststellen können, dass es auch andere Leute gibt, die nicht immer schöne Weihnachten feiern können.
Veröffentlich 1987