Wie mir ein störrisches Ross zu einem Festtag verhalf
Immer etwa anfangs November nahm mein Meister ein zweites Pferd ans Futter, damit man es noch für das Holzschlitteln im Winter vorbereiten konnte, da ja zu jener Zeit noch alle Schwerarbeit mit natürlichen PS erledigt wurde. Meist konnte er für das zweite Pferd Burschen aus der Nachbarschaft verpflichten. Falls aber fremde Hilfe fehlte, musste ich, der kleine, krumme Primarschüler herhalten, ja, ich durfte bei günstigem Schlittelwetter oft wochenlang nicht mehr zur Schule gehen.
Mit meinen kurzen Beinen blieb ich aber oft im tiefen Schnee stecken und stürzte. Ich glaubte, unter der schweren Ladung erdrückt zu werden, aber ich hatte immer Glück. Entweder blieb das Pferd gleich stehen, oder aber die Ladung drückte mich seitwärts in den Schnee. Die blauen Flecken kamen nachher dazu, wenn mich der Meister mit dem dicken Ende des Geisselsteckens „behandelte“.
Im Jahre 1927 war es so weit. Aus der Pferdehandlung Brändli in Gossau kam der Avis, dass aus Ungarn ein Transport Arbeitspferde angekommen sei. Eines werde wie abgemacht direkt nach der Station Zürchersmühle gesandt. Schon beim ersten Anblick des Tieres konnte man annehmen, dass das nie ein gutes Schlittelross abgeben würde. Hoch und schmal war seine Gestalt, es hatte überlange Beine und einen etwas trüben Blick. Es war vermutlich ein Grubenpferd gewesen.
Bald fand man heraus, dass es nie am Leitseil gehen würde, und ein handgeführtes Pferd ist ja nur für Hofarbeit, etwa Mistführen oder so zu gebrauchen. Und nach einer Woche war klar, dass das Tier nie für einen Schwertransport taugen würde.
Der Meister wurde zu dieser Zeit zu einer Revierjagd ins Ausland eingeladen. Vor seiner Abreise bestimmte er, dass ich, sollte er nicht bis zum Sonntag zurück sein, das Ross nach Gossau zum Austausch bringen müsse. So musste ich mich am Sonntagmorgen für die Reise rüsten. Es schien noch eine fahle Novembersonne, und es hiess, ich dürfe schon im [1]Lismer gehen, da ich ja sonst zum Schwitzen käme. Nun zog das ungleiche Paar los. Aber schon nach wenigen hundert Metern stand das Tier bockstill, dann ging’s wieder ein Stück. Aber ich musste ständig am Strick ziehen, sodass mir der rechte Arm schon nach kurzer Strecke arg schmerzte. So ging es mühsam bis zum Trübli in Waldstatt. Wir waren da bereits zwei Stunden unterwegs – hätten aber normalerweise schon in Gossau sein sollen -, als das Tier den Gehorsam endgültig verweigerte. Ich schimpfte es gehörig aus und riss ungeduldig am Strick, aber ohne Erfolg.
Nun prellte es plötzlich mit den Vorderbeinen nach vorn. „Hackeln“ sagt man dem. Es machte eine scharfe Drehung mit dem Hals, dann hatte sich das Tier losgerissen. Nun konnte es auf einmal gehen, denn in gestrecktem Galopp ging‘s dem Dorf Waldstatt zu und ich heulend hinterher. Bei der Verbindungsstrasse Kirche-Schönengrund stand ein älterer Mann, der mich ansprach: „Aha, da kommt der Rossknecht, der sein Tier in die Selbständigkeit entlassen hat.“ Aber im Ernst, er habe es schon einfangen wollen, was ihm aber nicht gelungen sei.
Er habe es aber von der Herisauerroute in Richtung Schönengrund abdrängen können und darauf sofort Fuhrhalter Preisig telefoniert, dieser solle doch bitte das Tier einfangen. Also begab ich mich dorthin. Es war wirklich im Stall angebunden und frass duftendes Heu. Ich wollte gleich wieder auf die Tour. Aber der freundliche Mann lächelte nur und wies mich in die Gaststube. „Bist ja ganz nass, könntest dich erkälten.“
Einige Gäste konnten kaum glauben, dass man einen Buben im November in einem dünnen Lismer, kurzen Hosen und Schuhen ohne Strümpfe auf eine solche Tour schicke.
Unterdessen hatte Herr Preisig die Pferdehandlung Brändli über die Sachlage informiert. Nach etwa einer halben Stunde kam der Pferdehändler persönlich, um das Tier zu begutachten. Nachdem er mich über dessen Verhalten ausgefragt hatte, beschied er, das gute Heu sei nun des Rössleins Henkersmahlzeit, denn er nehme es nicht mehr mit nach Gossau, sondern übergebe es dem Rossmetzger in der Zürchersmühle. Ob ich schon Zmittag gehabt hätte, fragte er mich. Sie zu Hause hätten zwar schon gegessen, aber er wolle seiner Frau noch berichten, dass er einen Gast heimbringe, sie solle etwas Warmes bereithalten. So konnte ich es mir im fein gepolsterten Mercedes bequem machen und danach in einem feinen Herrenhaus ein feines Essen samt Dessert geniessen.
Frau Brändli sah, dass ich etwas schlotterte und fragte: „Hat denn niemand gesehen, dass der Bub ganz durchnässt ist?“ Ich hatte nämlich in meiner Not gar nicht gemerkt, dass es längst zu regnen begonnen hatte. Sie gab mir einen schönen handgestrickten Pullover mit. Nach dem herrlichen Essen durfte ich wieder in den Mercedes steigen und mit Herrn Brändli nach der Zürchersmühle fahren. Er fuhr darauf gleich zum Rossmetzger, mich aber hiess er allein den Berg hinauf zu den Meistersleuten gehen. Er gab mir einen Brief für den Meister mit, angeschrieben mit: „Bitte sofort öffnen!“ Dieser schaute mich nur hässig an, aber weiter passierte mir diesmal nichts. Für mich war dieses Erlebnis fast so etwas wie eine Weihnachtsgeschichte.
30.12.1988 Ernst Brunner
In diesem Bericht habe ich den einen oder andern Satz noch etwas zurechtgestutzt, ohne aber den Sinn irgendwie zu verändern. A.S.
[1] Lismer: Ein gestrickter Pullover